Thomas (blättert im Katalog): Für diese Madonnen habe ich mich interessiert – ich sah sie selbst als Container bzw. Maschinen, konstruiert aus Codes, die über lange Zeiten verbindlich waren.

Haltung von Mutter zu Kind – das Verhältnis vom Kopf zum Körper – Farben etc.– fast alles war proportional zu einander und unter einander codiert.

Nur ein kleiner Bruchteil an Gestaltungsfreiheit war übrig, individuell für die Ikonen-Maler frei auslegbar. – Die codierten Behälter funktionierten ähnlich wie Vasen, in denen immer wieder frische Blumen sind. –

Das „Programm der Herstellung dieser Madonnen“ habe ich parallel zu industriellen Produktionsformen gesehen. Bewusst – verkürzt auf das reine Machen – wurde die Summe der notwendigen Teile zum „Bau einer Madonna“ so produziert, als handelte es sich um Autoteile.

Auch der Produktionsprozess lief gedanklich ähnlich, wie in der Autoproduktion, wo es bei einem Durchschnittsauto um ca. 4.000 Teile geht, die zusammengebaut ein „Auto“ sind.

Im Durchschnitt mussten ca. 600 individuelle, organische Binnenformen hergestellt werden, die auf dem Fotokopierer durch Verzerrung von bedruckten Latex-Gummis – als individuelles Mapping – entstanden.

Dieses Mapping musste so beschaffen sein, dass die zu verzerrenden Bilder von 6–8 Händen in vorbereitete Outlines so gezogen wurden und kopiert wurden, dass weder ein Verlust noch ein Surplus am Image zu sehen war.

Wie ein Kotflügel beim Auto auch, musste z. B. ein Finger genau in die gewünschte Position der Madonnen-Hand passen. –

Hier (blättert weiter im Katalog) ist eine Jaguar-Madonna und hier füllen Mercedesse eine Madonna… und das hier – ist eine Computerarbeit – mit dem Atari gemacht. Mit dem Atari wurde ebenfalls Bild für Bild gerechnet und ausgedruckt und in das Schema der Madonna eingesetzt.

Der Computer ist – gegenüber den mit 6 Händen verzerrten Latex-Verzerrungen steif – brutal und schwerfällig. Das hatte aber auch etwas. (Blättert zurück zu der ersten Madonna.) Diese sind alle mit Gummi gemacht…

 

Antje: Das waren also diese Latexgummis, die du auf die Kopiermaschine gelegt hast, ja?

 

Thomas (blättert): Richtig. Inhaltlich waren diese Konfrontationen zwei Welten: Ja–Nein/Alt–Neu/Gut–Böse – fast mittelalterlich…so wie bei Stefan Lochner im Staedel…

Da sind zwei japanische Holzschneider – Sharaku und Utamaro – mit Holzschnitten von vor 200 Jahren. Sie sind bis ins kleinste Segment mit Canon-Kameras gefüllt.

(Blättert den Katalog von hinten nach vorne, bis er zuklappt). Jetzt fangen wir wieder von vorne an (blättert wieder auf). Ok, Christus natürlich noch. Er ist mit dem ersten Stück Autobahn auf deutschem Boden gefüllt (Frankfurt–Darmstadt). Der Korpus Christi als Schmerzensmann, von tausend Straßen und Autos durchzogen. In jeder Hand, in jedem Blutstropfen, überall ist Autobahn. Das hat auch was mit Genetik zu tun….

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Während ich 1958 diese Webereiausbildung hatte – stand ich Tag für Tag 9 Stunden lang zwischen Reihen von stampfenden Webautomaten… – Der Rhythmus von 400 Maschinen –dieses Däng Däng Däng Däng Däng Däng – war überall. – Und damals dachte ich: Das hältst Du nicht aus. Ich muss hier raus und in Behandlung gehen. –

Aber dann begann ich ganz leise vor mich hin zu singen, und bald empfand ich am ganzen Körper ein angenehmes Zittern und Swingen. Ich konnte loslassen und einsinken – mitten in der Raserei des Betriebs Ruhe finden…

Das war damals das gleiche Rezept für alle. Jeder ließ sich irgendwann frei in die Hölle fallen. Anstatt sich gegen sie zu wehren, empfand man sie irgendwie süß. –

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Antje: Aber wie hat sich das…du meintest, du hast gesungen dabei, ne?

Thomas: Ich habe einige Schleifen gesungen, um irgendwie einzusinken…mich abgelassen in den inneren Maschinenraum…

Ich war total überfordert – und sackte regelmäßig ab, hatte sozusagen leichte Anzeichen von Durchgedrehtheit.

Jedenfalls traute ich meinen Sinnen nicht – als ich plötzlich bei einer bestimmten Frequenz von den Dynamos plötzlich menschliche Stimmen gehört habe.

Ich habe mein Ohr auf den Motorblock gelegt (demonstriert es, indem er sein Ohr auf eine Tischplatte legt) und tatsächlich tief im Getriebe – zarte Frauen-Stimmchen singen gehört…

 

Antje: Und was haben die gesungen?

 

Thomas: Es schien eine Art Rosenkranz. Das gleiche Murmeln, wie ich es als Kind halt in der leeren Kirche gehört hatte… wenn ein Grüppchen alter Frauen sich nachmittags zum Rosenkranz traf.

Alle schwarz gekleidet, ein „Haufen“ in der Mitte von der Kirche: Heilige Maria voll der Gnaden, bitte für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes… wuawuawuawua… (macht den Gesang kurz nach). – 100 Ave Marias – Kugel für Kugel verbanden sich Ave Marias mit den Kugellagern….

Motor und alte Nonnen wurden so eins! Nass geschwitzt sagte ich mir: Jetzt reicht‘s. Du musst jetzt dringend aussteigen!

30 Jahre später, wo alles und jedes sowieso am Tropf von Maschinen hängt – fand ich zurück zum Rosenkranz.

Die Nähe, ja den Merge mit den Motoren gestehe ich mir – durch das Sein von Jetzt – zu!

Überall im Verkehr – in den Supermärkten etc. hörte ich dieses Jammern/Leiern, wo es im Rosenkranz nicht darauf ankam, den Sinn zu verstehen – sondern auf Masse, einfach um Stau/Motoren laufen/Radio laufen/Stehen – leiern – beten – wie in Tibet – im Islam – in Israel – im Grunde in der ganzen Welt – runterzuleiern, abarbeiten, kaufen, verbrauchen…

Nein – das ist kein Fatalismus…

… und der Gewebebegriff war flach… aber der Heidegger meinte ihn ja dreidimensional: als „Geweb“. Und in seinem „Geweb“ liegen Millionen Gewebe übereinander. In ihrer unendlichen Summe repräsentieren sie dann einen Körper. Und da gibt es natürlich Milliarden Überschneidungspunkte drin.

Und wenn du das so fein siehst, wie er das in diesem kurzen Text über das „Geweb“ sagt, dann kann man schon sehr gut damit arbeiten…

Z.B. die Metapher der „Wiese“ war für mich mindestens so wichtig wie die des Gewebes: Dass ich mich als Kind in Wiesen gelegt habe, in duftende Sommerwiesen, wo Milliarden von kleinen Insekten und Lebewesen und Pflanzen und Kräuter eine so unvorstellbare Einheit bilden, eine so großartig, grauenhafte Symbiose, ne…

Wo Millionen Teilchen sterben müssen, damit Myriaden von Teilchen dafür aufleben können. Und alleine der Duft, der da drin ist…

 

Helke: Na, und der Sound.

 

Thomas: …oder dieser Wind, der da durchgeht, durch diese Gräser… Also, ich bin sicher, es gibt so ein paar Archetypen für Massen…und es steht dir frei, was sich da jeder nimmt. (Oder auch nicht.)

Und da kommen wir noch mal kurz auf Canetti: ob das Massensymbol jetzt Wald ist oder ob es die Berge sind, oder das Meer.

Auf jeden Fall braucht wohl jeder einen Naturmasseanteil – und wenn er auch künstlich produziert ist. Was die normale Realität in riesigen Städten ist, wo es ab 10 Millionen aufwärts hauptsächlich anorganische Symbiosen gibt. – Vor dieser Realität scheint es vielleicht egal zu sein, ob eine „Masse“ Kartoffeln oder Zahnpasta ist? Aber das können wir mit unseren Privilegien nicht mehr lernen.

Auf jeden Fall dieses: dass man bestimmte „Massen von Natur“ hinter sich hat oder in sich hat, mit denen man anpluggen kann… ist, wie ich glaube, das Wichtigste, auf dass man nicht in diese erfrorene Einsamkeit verfällt – als durchgehende Angst vorm Leben…