Tanja Widmann: Ich möchte bei dem Bild Masken (2001) ansetzen, das gewissermaßen zum Grund unserer Begegnung wurde. Ich würde es gerne ein weiteres Mal als Ausgangspunkt nehmen, jetzt für dieses Gespräch hier, und sehen, wohin wir im Blick darauf und im Reden darüber gelangen und inwieweit sich über diesen Fokus auch andere Arbeiten von dir mit einbeziehen lassen. Im neuerlichen Blick auf dieses Bild gibt es für mich mehrere Bezugspunkte. Einerseits erinnert es noch mal Watteau für mich – die Setzung einer Theatralik, die die Bühne aufruft, ohne dass sich die gezeigten Figuren auf ihr befinden oder bewegen würden. Diese Theatralik reicht vom Moment der Kostümierung über die Gesten bis hin zu den Masken. Wie bei Watteau gibt es auch hier eine Freisetzung der Zeichen – wären die Kostüme, wie die Gesten und Masken im Theater, eingebunden in ein Stück, eine Erzählung, würden sie mit spezifischer Bedeutung aufgeladen. Hier jedoch sind sie kräftig gesetzte Zeichen, die Bedeutungshaftigkeit zwar aufrufen, zugleich aber in der Schwebe bleiben. Sie erwirken unsere Aufmerksamkeit als unlesbare, gleichsam ausgehöhlte Zeichen, deren Verweis für mich als Betrachterin nur auf Abwesendes zielen kann.
Die vor mir erscheinende Gruppe trägt ein Versprechen von unverwirklichter Utopie in sich, sie evoziert freie Theatergruppen und sozialkritische Formierungen in den 1960er und 1970er Jahren, ebenso wie sie doch zeitgenössisch wirkt durch diese Gesichter, in manchen Stoffen, im Stil. Als Betrachterin werde ich adressiert und aufgerufen, und doch werden zugleich mehrfach Grenzen gezogen. Gerade die Theatralik der Szene, der Gruppe, des Ortes lässt den Ausstellungsraum und meine Bewegungen darin völlig undramatisch, alltäglich und nüchtern aufscheinen, auch die Gemeinsamkeit der Gruppe bleibt mir, die ich vereinzelt vor dem Bild stehe, gleichermaßen fremd, fern. In dieser Unentschiedenheit zwischen Adressierung und Unnahbarkeit, Alltäglichkeit und Außerordentlichkeit liegt ein unabschließbarer Sog, der auch in anderen Arbeiten von dir wiederkehrt. Welche Konstellationen von Gruppen, von Beziehungen rufst du auf?
Antje Majewski: Ich finde deine Beschreibung sehr interessant. Tatsächlich habe ich erst in den letzten Jahren gemerkt, dass meine Kindheit in den frühen 1970er Jahren mich sehr geprägt hat. Ich bin ja 1968 geboren und ging in antiautoritäre Kindergärten, in denen wir mit Schlamm spielen, Wände bemalen und nackt durch den Wald laufen durften. Meine Eltern haben sehr bewusst darüber nachgedacht und mit anderen diskutiert, wie sie unsere Erziehung angehen wollten, und ein Ziel war auf jeden Fall, uns zu freien Menschen zu machen, die in der Lage sind, gewaltfrei miteinander umzugehen. Die Frage nach einer idealen Gesellschaft stand selbst in unseren Kinderbüchern im Raum, etwa bei F. K. Waechter oder A. S. Neill. Außerdem haben wir uns viel verkleidet, meine Mutter drehte Super-8-Filme mit uns, und wir inszenierten kleine Theaterstücke und Fotogeschichten. Als ich über Masken nachdachte, fielen mir diese Fotos wieder ein, und daraus ist dann das Buch Teenage Pantomime (2002) entstanden.
Als wir später umzogen, vom Land in die Vorstadt, wurde ich sehr plötzlich zur grüblerischen Einzelgängerin, und erst beim Ausgehen und in den Freundschaften über zwanzig habe ich dieses Gemeinschaftsgefühl der Kindheit wiedergefunden. Nun sind aber die Freundschaften und die Liebe als junger Erwachsener eine komplizierte Angelegenheit. Dazu kam, dass ich damals Nietzsche, Barthes, Elias, Wittgenstein gelesen und mich viel mit Sozial– und Mentalitätsgeschichtsschreibung beschäftigt habe, die davon ausgeht, dass es eine objektive Beschreibung nicht geben kann, aber trotzdem auf dem mühsamen Sammeln von Belegen für die eigene Version besteht. [1] Daraus ergab sich für mich der Wunsch, nicht Kunst über die Unmöglichkeit einer Wahrheit (in der Darstellung von Wirklichkeit oder den Gesetzen des Mediums) zu machen, sondern selbst Wirklichkeiten zu schaffen, indem ich erst in Fotocollagen Szenen konstruierte, die sehr überzeugend wirkten, aber räumlich oder zeitlich verwirrend waren, dann innere Bilder mit Akteuren inszenierte und Fotos machte, die als Grundlage meiner gemalten Bilder dienten.
Der Zyklus L’invitation au voyage (1999–2001) versucht, innere Zustände nicht symbolisch darzustellen, sondern zu evozieren. Ich merkte nach dem ersten Teil, Freunde und Liebende (1999), dass es mir nicht reichte, die Menschen nur von außen abzubilden. Die Gefühle wurden dann in den folgenden Bildern weniger verkörpert als „aufgeführt“ oder „performt“. Denn es sollte nicht um meine Gefühle der Welt gegenüber gehen, wie man sie durch die malerische Handschrift übermitteln kann, sondern um die Darstellung von etwas, das in der Welt und den anderen Menschen ist und das vor allem zwischen ihnen stattfindet.
TW Lass uns doch bei dieser Frage der Aufführung ansetzen. Wie würdest du dieses Aufführen genau beschreiben, und welche Bedeutung hat es für dich, dass das in den Bildern Umgesetzte, seien es nun Gefühle oder bestimmte Konstellationen, ein an spezifisch historische, gesellschaftliche Entwürfe gerichtetes Begehren zwar evoziert und zugleich ins Jetzt wendet, von den dargestellten Personen aber gerade nicht verkörpert wird? Denn weder Verkörperung im Sinne einer restlos aufgehenden Identifikation noch (Selbst-)Verwirklichung scheinen mir in deinen Arbeiten aufgerufen zu werden. Vielmehr ist es gerade diese Schicht der Distanz, Entleerung, Aushöhlung und gleichzeitigen Neuaufladung, die für mich das Spannungsverhältnis in der Erfahrung der Arbeiten ausmacht.
Performen, das heißt für mich auch immer Übernahme, Übertragung etc., das macht eine Möglichkeit zur Verschiebung auf. Als Setzung einer nicht-identifikatorischen Geste gedacht, verlinkt sich dies mit einer Infragestellung von Selbstverwirklichung, wie dies in den Konzepten der 1960er Jahre mitunter gar zu idealistisch aufscheint. Mich interessiert demnach eine Position, wie sie Judith Butler entwirft, die in dieser Frage nach einer möglichen „Praxis der Freiheit“ die Konstituierung eines Selbst durch Codes, Regeln, Normen etc., die uns vorausgehen und die uns mit bestimmen, nicht aus dem Blick verliert. Auch wenn die Formung des Selbst nie gänzlich durch dieses Feld der Normen bestimmt ist, diese reflektiert und befragt werden können. Butler spricht in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Foucault von „so etwas wie einer ursprünglichen Freiheit‘ (…). Etwas Ähnliches, aber offensichtlich nicht ganz dasselbe“[2]. Gerade in diesem Sinne wird für mich auch das Nennen einer Verschiebung bei dir wichtig, im Rahmen einer Fiktion, einer Theatralik im anfangs angeführten Sinne usw. …
AM Das ist für mich sehr schwer zu formulieren, denn hier fragst du nach etwas, was sich gerade der Beschreibung, der festgelegten Bedeutung entziehen muss, was in einem anderen Gebiet stattfindet. Aber ich versuche es mal so: Für mich sehr wichtige Begriffe wie Freiheit und Glück können nicht zur Darstellung gebracht werden. Die Bilder mit ihren Akteuren können deshalb nur etwas aufführen. Ich kann es nur über das „Als-ob“ erreichen, dass etwas für mich Undarstellbares zur Anschauung kommt. Das Undarstellbare hat mit dem „Außer-sich-Sein“ zu tun, einem Zustand, der mich sehr interessiert. Das Eingesperrtsein im eigenen Körper, im einzelnen Kopf, in der Sterblichkeit finde ich schrecklich. Aber auch das in kulturellen Vereinbarungen, in einer Regelhaftigkeit, die immer vergisst, dass sie historisch veränderlich ist, in Identitätszuschreibungen. Indem ich Personen male, oder mit ihnen an einem Film arbeite, gerate ich selbst ein wenig „außer mir“ – in das Kunstwerk hinein, in das sich wiederum die Betrachter „außer sich“ begeben können. Und das geht am besten mit der Hilfe von Akteuren, die sich selbst „außer sich“ setzen wollen. Das kann der Drag-Tänzer sein, aber auch ein Landstreicher, der sich selbst außerhalb der Gesellschaft setzt. Deshalb haben alle diejenigen meine Sympathie, die sich neue Personae zulegen, gerade auch in Bereichen, die niemals zur Hochkultur gehören werden, wie die Straßenmimin aus Video (2001) und My Very Gestures… Enchanted (2001), die ihre Kunst so perfektioniert hat, dass sie ihre Augen minutenlang offenhalten kann. Am Anfang weint sie mit offenen Augen, dann „bleiben sie feucht“. Das ist pathetisch, aber nur dieses Pathos scheint mir geeignet.
TW: Deine Ausführungen zur Straßenmimin finde ich interessant. Denn dieses Nichts, das hier aufgeführt wird – das Vermögen, die Augen offen zu lassen –, das zugleich jedoch den Körper bewegt, Affekte aufruft, als Pathos(-formel) erscheint, führt mich geradewegs zu Warhols frühen Filmarbeiten, und den Screen Tests (1964–66). Auch da wurde nichts dargestellt, sondern Potenzialität vorgeführt, etwa eines Antlitzes, einer Oberfläche, einer Maschine, aber auch von Gruppenverhältnissen. Über das Verhältnis der Elemente wie der Kräfte und der gleichzeitigen maximalen Reduktion zeigte sich dann größte Komplexität, gerade auch durch das Aufeinandertreffen der reinen Oberflächen und der querenden Affekte in der Zeit. Zudem wird bei Warhol die Gruppenkonstellation zu einem zentralen Produktionsfaktor. So entwarf sich die Möglichkeit, das Regelwerk Hollywoods ebenso zu reflektieren wie zeitgenössische künstlerische Setzungen, im Blick auf die Gruppe und Einzelne die Zirkulation des Begehrens und die Formierungen des Selbst in der kapitalistischen Maschine ebenso voranzutreiben wie aufzuzeichnen. Siehst du in Warhol auch einen möglichen Bezugspunkt?
AM Ich habe gerade noch mal Warhols Bücher gelesen. Ich finde die Filme auch sehr lustig, es sind fast Slapstick-Ideen. Wenn zum Beispiel das Gesicht eines Mannes gefilmt wird, dem unsichtbar einer geblasen wird, (Blow Job, 1964), dann gibt es eine Versuchsanordnung, die aber kein anderes Ziel hat, als dass man das sehen kann, was man gern sehen will. Oder Sleep (1963), bei dem er selbst erklärt, es hätte einfach niemand mehr geschlafen und deshalb habe er dieses merkwürdige Phänomen festhalten wollen. Man stellt sich dann vor, wie ein Haufen von Menschen auf Speed versucht, sich diesen Film anzuschauen. Oder eben ein Gebäude zu filmen, das sich ja nicht bewegen kann. Diese Art von scharfem Witz – scharf, weil er eigentlich ganz banal ist – finde ich auch bei Duchamp. Bei mir wären das Metallhunde, die durchs Gemaltwerden lebendig aussehen, weil die echten Hunde kein Fell haben (Xoloitzcuintle, 2005), oder ein riesiger Motor, der ein unbeweglicher Gegenstand ist, aber gemacht wurde, um Dinge in Bewegung zu setzen. Und auf dem Bild natürlich schon vom Medium her unbeweglich sein muss (Motor, 2007). Die Eigenschaften meines Mediums werden hier sozusagen in einer eleganten Geste vorgeführt, wie bei Duchamps Readymade Aidé À bruit secret von 1916 – als reiche Hülle für einen unsichtbaren, nur vom Betrachter zu erzeugenden Inhalt. Bei mir ist alles gleichzeitig ernst, fast pathetisch, was aber die Kunst angeht, auch sehr tongue-in-cheek. Dabei ist die Mimin, die sich als Statue inszeniert, die Umkehrung des toten Steins, der angeblich lebendige Energie enthält (Rare Desert Stone, 2005).
TW Ich denke im Blick auf deine Arbeit aber auch an Agambens Passagen zur Geste, die er als Raum der Potenzialität, aber auch als eine Figur der Übernahme beschreibt, als ein Vorführen der Mittelbarkeit. Er spricht in diesem Zusammenhang Mallarmé zitierend von der Pantomime als dem, was die vertrautesten Gesten in der Vorführung fremd werden lässt und so in der Schwebe bleibt zwischen „dem Wunsch und der Erfüllung, der Ausübung und der Erinnerung daran“[3]. Diese pantomimische Qualität scheint mir auch in deinen späteren Filmen aufzuscheinen. Auch hier fällt das Zueinandertreten des Alltäglichen, Vertrauten mit dem zwecklosen und zugleich in einer außerordentlichen Bewegung Dargebrachten auf. So etwa die Bewegungen in No School Today (2005), die zwischen „Potenz und Akt“ und irgendwo zwischen Alltagsverrichtung, Spiel, Tanz und Kampfsport liegen. Wobei das, was ich hier Tanz nenne, durch die unglaubliche Verlangsamung und die kriechende Bewegung eher als Potenzial des Körpers erscheint, als Eindämmung ebenso wie als Experimentieren mit neuen Möglichkeiten. Was meint diese sprachlose Theatralität für dich?
AM Die Formulierung von Agamben ist so präzise, wie sie sein kann, wenn man etwas Unbeschreibbares beschreiben möchte. Das Problem ist ja, dass es in dem Moment in sich zusammenfallen würde, in dem es mittelbar wird im Sinn einer Festschreibung, eines Signifikanten oder einer Narration. Deshalb ist auch Pantomime, die Alltag bedeutet – nur ohne die benutzten Gegenstände –, für mich völlig uninteressant. Die Mimin, mit der ich gearbeitet habe, war die Einzige, die mir je auf der Straße aufgefallen ist, weil sie so absurd gut war in ihrer nichts darstellenden Darbietung. Ich interessiere mich für Tänze, die pantomimische Elemente verwenden und in so eine Art präzise Ekstase drehen, wie frühen Breakdance oder Crumping oder M’Balax. Aber natürlich auch für Parkour.
Es ist notwendig, dass die Bilder selbst nicht ekstatisch sind, sondern die Ekstase vorführen, so wie auch diese Tänzer erst mit einer großen Präzision und Meisterschaft in den Bewegungen dahin kommen, außer sich zu geraten. Und diese große Meisterschaft erlangen sie, indem sie unglaublich viel Arbeit und Energie in etwas stecken, das keine Ware, nicht einmal einen kulturellen Mehrwert produziert. Im modernen Tanz kenne ich nur sehr wenig, was in die Richtung geht, vielleicht Wayne McGregor. Ich bin sehr schnell gelangweilt, wenn ich merke, dass man mir mit all den Bewegungen und Gesten nur etwas mitteilen will, was ich längst kenne.
In meinen Filmen wird zunächst einfach nur etwas anders gemacht. Dieses Andere kann keinen Zweck oder ein Ziel haben, sonst wäre es doch wieder nur dasselbe. Und es muss in ganz spezifischen Umgebungen stattfinden. Nur in Tanz RGBCMYK (2007–08) werden einfach die Elementarfarben durch Tänzer auf einer leeren dunklen Bühne zur Aufführung gebracht, ich möchte die Bilder aber mit Rausch (2008) zeigen, einem Film, in dem in dem sehr realen Club Basso in Berlin-Kreuzberg ekstatisch getanzt wird.
Die Bilder und Filme sind Träger oder Fahrzeuge, ähnlich wie im Vodoun Menschen von den Göttern geritten werden. Für mich gibt es keine Götter und nichts, was man von ihnen erbitten kann. Trotzdem habe ich das Gefühl, einen Bereich aufzurufen, in dem ich mich nicht allein befinde. Die Darstellung durch Akteure ist wie das Anrufen eines Namens, von dem man nicht weiß, welches Wesen er benennt. Und die Anrufung muss in einer Ecke des Wohnzimmers stattfinden oder auf der Straße, nicht in einer Kirche. Sie muss auch gewissen Gesetzen gehorchen. Sie weiß aber eigentlich, dass sie ins Leere zielt, denn da ist nichts weiter. Nur das, was wir uns schaffen. Vielleicht kommt daher dein Gefühl der Fremdheit, denn eigentlich gibt es keinerlei Versprechen.
TW Dieses Als-ob führt mich nun zu einer etwas anders ausgerichteten Frage. Was ermöglicht die fotorealistische Tradition in der Malerei für dich? Mit diesem Begriff des Fotorealismus versuche ich Folgendes zusammen zu bringen: dass du dich einerseits einem gewissen Realismus in der Malerei verschrieben hast und zugleich wiederholt ein Foto als Grundlage, Referenz einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Dabei interessiert mich die Doppelung – das vorausgehende Foto ist immer auch schon ein entworfener Blick, Festhalten einer möglichen Konstellation von Elementen, die jedoch auch noch mal demontiert und neu zusammen gestellt werden können, bevor sie dann in spezifischer Differenz in der Malerei wiederkehren. Zugleich legt sich diese Schicht des Fotografischen in die Malerei gewissermaßen hinein, die wiederum die Elemente des Realen quasi durchbrechen lässt, so zu einer Art Riss führt. Ich denke, da wäre es auch nötig, diesen Begriff des Realismus nochmal genauer zu fassen. Hal Foster etwa versucht, den Begriff des Realen an Lacans Ausführungen zum Traumatischen anzulegen.[4] Von dieser Bezugnahme ausgehend, versteht er Superrealismus letztlich auch in Bezug zum Surrealismus und zu einer Aufnahme photographischer Elemente in der Appropriation Art und differenziert deren divergierende Verhältnisse zum Realen aus. Dabei wird etwa die Entscheidung für ein Feiern und/oder Befragen bzw. Ausstellen von Illusionismus wichtig, Fragen von Derealisierung, die Attraktion von Oberflächen etc. Wie würdest du diesen Begriff des Realismus im Rahmen deiner Arbeit verstehen?
AM Ich arbeite sowohl bei den Bildern wie bei den Filmen mit Menschen zusammen, denen ich viel Freiheit lasse. Ich habe zwar oft Bilder im Kopf, aber sie verändern sich, während andere daran mitwirken. Das geht so weit, dass ich in Dekonditionierung (2007–08) die Darsteller gebeten habe, jeden Tag nur einer Verhaltensvorgabe zu folgen, sonst völlig frei zu improvisieren. Es folgen aber sehr lange Zeiten des Schnitts oder der Malerei, in denen ich das zum Vorschein bringe, was einerseits bei meinen Darstellern passiert ist, was ich aber auch sehen will. Da mich diese Menschen interessieren, scheint es mir sinnlos, sie zusätzlich zu verfremden.
Mein Blick ist natürlich wie in unserer Kultur allgemein von Filmen, von Fotos geprägt. Ich glaube zudem, dass auch die Malerei, der ich bestimmte Anspielungen entlehne, bereits vom Blick durch optische Medien bestimmt war. In den letzten Jahren habe ich aber begonnen, mich in der Malerei auch für verschobene Perspektiven und für eine bestimmte Art von Handschrift zu interessieren, die das Bild etwas pulsieren lässt. Das heißt aber nicht, dass mir das „natürlicher“ vorkommt als der Blick durch die Linse. Mal de ojo (2005) habe ich deshalb so genannt, weil ich den bösen Blick wie das Augenweh meinte. Die Bilder wirken traditionalistisch, sind aber malerisch wie inhaltlich eigentlich auf eine Art verstört, die mich sehr freut. In dieser Serie wie auch in The Royal Mummies (2006) geht es auch sehr um die Frage der Zeitlosigkeit, um die merkwürdige Möglichkeit, mit Kunstwerken Vehikel zu schaffen, die über lange Zeiträume hinweg etwas transportieren können, das die Betrachter als lebendig empfinden, obwohl es selbstverständlich nur tote Materie ist.
Ich habe mich immer als „Realistin“ bezeichnet, würde aber das Wort verwenden wie Pier Paolo Pasolini, der es gegen „Naturalismus“ absetzt. Für ihn ist der Film ein Zeichensystem, in dem die Wirklichkeit sich selbst bedeutet. Ein Baum „spielt“ einen Baum. Dadurch, dass er das in einem Zusammenhang tut, dass er ein „Kinem“ wird, wird es möglich, ihn so zu sehen, als „spräche“ die Wirklichkeit (oder nach Pasolini Gott) durch ihn.
Pasolinis große Trauer über das Vergehen der alten Kulturen kann man traditionalistisch nennen, sie scheint auch im Widerspruch zu seinem Marxismus zu stehen. Möglicherweise sehnte er sich eigentlich nach dem „Zeitalter der Ähnlichkeit“ (Foucault), in dem jeder Gegenstand eine heilige Bedeutung haben konnte. Diese Sehnsucht entspringt dem Erstaunen, dem Erschrecken über die Existenz all dieser Dinge und Menschen, und die Trauer darüber, dass sie gleich wieder vergangen sein werden. Könnten sie alle zu Bedeutung gebracht werden – so, dass sie „sich selbst“ bedeuten – könnte der Prozess der Vergänglichkeit gestoppt werden. Ähnliches sehe ich bei Hubert Fichte oder anders bei Yasushi Inoue: die Suche nach einer möglichen komplexen Sprache nicht „über“ die Wirklichkeit, sondern „durch“ sie. Daraus entspringt eine gewisse Detailbesessenheit, denn ohne die Details kann nicht gesprochen werden.