Der Landstreicher und die Streife

 

Die Erde ist aufgeteilt. Niemand kann ausgewiesen werden, der nicht anderswo aufgenommen wird.

Missliebige kann man einsperren und töten. Oder nimmt ihnen die Wohnung, enthält sie ihnen vor.

Obdachlos ist nicht, wer kein Dach hat. Ein Zelt oder ein Campingbus ist kein Wohnsitz. Wer ohne feste und legale Unterkunft ist, hat weniger Rechte als ein Bürger ohne Geld.

Gefährlicher ist, wer einen Ort hat, an dem er sich unbeobachtet ausbreiten kann. Der Penner dagegen verkörpert das schlechthin stinkende, sich diffamierende Elend. Laut und betrunken oder auffällig still, durch bloße Anwesenheit bettelnd. So wie man sich zusammenzieht, stößt man an.

Das Hochhaus ist eine abstrus in die Höhe gezogene Wand. Die Straßen sind lange Schläuche, in denen sich Abgase und Abluft stauen. Die Härte der asphaltierten Straße lässt sich von keinem Schuh genügend auffangen, ohne zu sehr zu federn. Es bereitet Mühe, sich nur eine Stunde nicht in der Absicht zu vertreiben, etwas zu kaufen. Ruhe zu finden, wenn nicht in einem Hotel.

Die offene Stadt nimmt jeden auf, der eine Wohnung findet und bezahlt. Wer wohlhabend ist, mag umherziehen, Konzessionen fordern und bei Gelegenheit verschwinden.

Jeder Staat beruht darauf, bestimmte Besitzverhältnisse geltend zu machen und also alle anderen von dem einem oder einer Gruppe Zukommenden zu enteignen. Jedes recht setzt ein Gefälle voraus zwischen dem, was man zu bekommen wünscht, und dem, was man abzugeben bereit ist. Ohne weiteres lässt sich irgendein Müll in einen Briefkasten stecken oder Geld auf ein Konto überweisen. Aber nur der Besitzer hat den Schlüssel, es herauszunehmen und abzuheben.

Nie gibt es genug. Das Vorhandene reicht nicht aus, um jedem soviel zukommen zu lassen, wie er will. Die konkurrierenden Interessen verschiedener Art treten zurück

hinter dem Verlangen zu vieler nach demselben.

 

 

Die selbstgebaute Hütte im Wald nahe der Autobahn

 

Laufend mache ich Dreck und nehme wem den Platz weg. Bestelle die mich selbst versorgende Parzelle und begehe ein Unrecht.

Ich werfe fort, lasse hinter mir, was ich nicht nötigst brauche, und wohne in einer Hütte, das ist kein Haus.

Die Hütte verheißt ein Leben, in dem wir mehr als einen Unterschlupf nicht brauchen, der uns vor Wind, Regen und kühlen Nächten schützt, und ist ein Behelf, der mich über kurz oder lang wieder fortschickt.

Der Wald ist das Gegenbild. Von dem wir immer noch abhängig sind, doch nach dem wir uns sehnen als etwas Verlorenem und Vergangenen.

Eine Autobahn, Grenzwall längs wie quer. Jeder Kontakt ist unterbunden, ich beschäftige mich allein mit mir und der von mir besetzten Fläche. Ich sehe mich in unbedingter Verantwortung.

Halte der Last stand, so wie ich ihr ausweichen kann. Was mich eben verletzt hätte, ist mir ein anderes geworden oder mein Tod.

Ist mir kalt, ziehe ich mich zusammen und weiß, es wäre nicht kälter, läge ich ausgestreckt. Am nächsten Morgen ist mein Körper steif und ich bin erkältet. Wenn ich mich jetzt warm halte, brauche ich mir keine Sorgen zu machen.

Als bereitete mir der Wind aus kargen Wipfeln ein Dach. Das erträgliche Klo ist umsonst. Vergeblich suche ich zu essen.

Das Pflücken im Wald ist erlaubt – wie lange Zeit der Mundraub – nicht das Jagen und Pflanzen.

Ich baue ein Baumhaus, das kein Stück Boden einnimmt und das niemand sieht. Hoch oben wirke ich bedrohlich, aber die Teufel seid ihr.

 

 

Die Streife entdeckt die selbstgebaute Hütte eines Landstreichers im Wald nahe der Autobahn

 

Im barocken Chiaroscuro, in sich gekehrt, mag der Landstreicher sich zeigen als unschuldig Angeklagter, heroischer Eremit, andächtig, schicksalsergeben – das sind Vermutungen. Eben hat eine Polizeistreife ihn bei seiner illegal errichteten Hütte entdeckt.

Der Polizist harrt wachsam, mit leicht abgewendetem Kopf. Er scheint einer der Jünglinge Colettes zu sein, mit gutem Benehmen und sanftem Gesicht, die einer sehr hübschen Mutter ähnlich sehen. Die Uniform lässt ihn außerordentlich adrett und rein wirken und verpflichtet ihn, wie ein fortwährend zu tragendes Hochzeitskleid, auf all das Fürchterliche, das er in seiner Stellung zu erfahren und zu vollziehen hat.

Der die Streife komplettierende zweite Polizist entgeht dem zu nahen Blick. Der Blick höhlt sich in die Hütte, den Dickicht und stößt hinter dem, was er noch sieht, ins untiefe Schwarz.

Die Geschichte liegt im Dunkeln. Das Ensemble zeigt die Situation, ohne eine Anordnung oder Abfolge wiederzugeben. Von einigem, das auf den Bildern zu sehen ist, weiß auch die Malerin nicht, was es ist. Sie hat eine Reportage vom Fernseher abfotografiert, das Gezweig später, blind in die erst vom Blitz erleuchtete Nacht.

Das Fernsehen teilt uns sehr viel über die Welt mit. Sicherlich sind Blickrichtungen vorgegeben, aber es steht uns frei, an bestimmten Stellen anzuhalten. Einzelne Bilder treten aus dem laufenden Geschehen und geben dem egal wie schnellen Nachrichtenstrom eine schleppende Rhythmik.

In Antje Majewskis Bildern sind die blendenden Lichter gedämpft und die Pixel des Fernsehen aufgelöst. Wie in der Erinnerung hat sie Details vereinfachend und ahnend rekonstruiert. Das gemalte Bild antizipiert die gewöhnlich synthetisierende Vorstellung des Betrachters, bereitet sie vor.

Niemand kann genügend wissen. Sich empören, sich mehr Informationen verschaffen, selbst hinfahren, selbst leben – warum nicht. Wenn man möchte, kann man zu einem Menschen werden, der von vielem eine Ahnung hat. Schöne, große, kaputte Welt.

 

In: Antje Majewski, Einer zu viel, Kunstverein Ulm, Ulm 2001