Die in Berlin lebende Künstlerin Antje Majewski (*1968, Marl) bewegt sich zwischen den Medien Malerei, Video, Fotografie. Von 1986 bis 1992 studierte sie Kunstgeschichte, Philosophie und Geschichte in Köln, Florenz und Berlin. Sie wurde im Jahre 2011 als Erste zu dem Artist -in -Residence -Programm des Weltkulturen Museums in Frankfurt eingeladen. Im Weltkulturen Labor hatte sie die Möglichkeit, Objekte der ethnografischen Sammlung zu untersuchen und eine künstlerische Arbeit für die Ausstellung „Objekt Atlas – Feldforschung im Museum“ zu realisieren. Im Dezember 2016 haben wir uns getroffen, um über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Beatrice Barrois: Im Jahre 2012 fand im Frankfurter Weltkulturen Museum die Ausstellung „OBJEKT ATLAS – Feldforschung im Museum“ satt. Du warst die erste Künstlerin, die im Weltkulturen Labor gearbeitet hat. Auch andernorts hat es Projekte gegeben, bei denen KünstlerInnen in ethnologische Museen eingeladen wurden, um mit den Sammlungen zu arbeiten: Beispielsweise das „Humboldt Lab“ in Berlin oder das Projekt „Grassi invites“ in Leipzig. Was hältst Du grundsätzlich von der Entwicklung, Kunstschaffende in ethnologische Museen einzuladen?
Antje Majewski: Grundsätzlich finde ich, dass es eine sehr gute Idee ist. Ich habe mich damals sehr über die Einladung von Clémentine Deliss gefreut, im Labor des Weltkulturen Museums zu arbeiten. Ich war tatsächlich die erste Künstlerin, die dort arbeitete und habe insofern auch mitbekommen, die ungewohnt die Situation für die langjährigen Kustodinnen des Museums war. Es war ein neuer Vorgang, sowohl innerhalb der Institution, als auch für mich. Was mir persönlich sehr geholfen hat: dass ich eine universitäre Ausbildung habe. Wissenschaftliches Forschen ist mir nicht ganz fremd, und ich habe mich aus meiner Sicht sehr gut mit den Kustodinnen verstanden. Es fand ein Austausch statt, bei dem das Wissen der Kustodinnen aus dem ethnografisch-wissenschaftlichen Bereich und meine künstlerischen Fragen gut zusammen funktionierten. Es ging darum, neue Blicke auf Dinge zu werfen, die schon ziemlich lange im Depot lagerten. Diese Objekte wurden im Rahmen des Museums noch nie gezeigt. Bei den Steinobjekten aus Papua Neuguinea handelt es sich um Objekte, auf die mich die Kustodin für Ozeanien, Eva Raabe, hingewiesen hat. Ohne die Zusammenarbeit wäre ich vermutlich nicht zu diesen Steinen gekommen. Frau Raabe hat mir zugehört und mich bei meiner Suche auf diese Objekte hingewiesen. Es sind sehr seltene Steine, die es in dieser Gruppierung so kaum auf der Welt gibt. Trotzdem wurden sie noch nie gezeigt, vermutlich weil sie für die Besucher des Museums sehr unscheinbar aussehen. Allein schon aus diesem Grund macht es für mich Sinn, KünstlerInnen einzuladen. Unsere Fragen sind ganz andere als die von WissenschaftlerInnen, und wir kommen dadurch auf andere Objekte. Der Wunsch von Clémentine Deliss war es, die Objekte durch unser Hinzutreten wieder in eine neue Form des symbolischen Austauschs zu bringen. Dem stimme ich voll und ganz zu. Ich denke, dass diese Herangehensweise Zukunft hat. Beispielsweise können Dinge auf die Mode oder das Kunsthandwerk rückwirken, was derzeit ja schon passiert. Aber auch für künstlerische Produktionen sind diese Objekte wirksam. Viele der im ethnografischen Museum gesammelten Objekte sind für mich Kunst. Der Begriff Kunst, also die Abgrenzung zwischen Kunst und dem, was nicht Kunst ist, oder dem, was europäische oder außereuropäische Kunst ist, sind für mich völlig obsolete Unterteilungen.
BB: Mich hat Deine Arbeit für die Ausstellung „OBJEKT ATLAS – Feldforschung im Museum“ besonders interessiert, weil sie sehr vielschichtig ist und aus mehreren Teilen besteht. Zum einen ist da das Gespräch mit Issa Samb in einem Hof in Dakar, zum anderen die prähistorischen Steine aus Papua-Neuguinea, die Du mit dem Science Fiction Roman „Picknick am Wegesrand“ der Brüder Strugazki in Verbindung gebracht hast. Kannst Du mir bitte erläutern, wie es zu diesen Ideen kam?
AM: Die Arbeit mit Issa Samb ist unabhängig von der Arbeit am Weltkulturen Museum zu sehen. Sie ist vorher entstanden. Ich hatte Clémentine Deliss kennengelernt, als sie noch nicht Direktorin des Weltkulturen Museum war. Sie war damals Kuratorin des Residency Programms „Randolph Cliff“ in Edinburgh, zu dem ich eingeladen war. Ich habe ihr damals erzählt, dass ich Objekte befragen und in ihre Herkunftsländer zurück bringen wollte, um Menschen zu finden, die mir etwas darüber erzählen könnten. Eines dieser Objekte war eine große Meeresschnecke aus dem Senegal. Clémentine Deliss meinte, dass sie vorhatte, in den Senegal zu fahren. Kurz bevor sie ihre Stelle als Direktorin des Weltkulturen Museums antrat, hat sie mich eingeladen mitzukommen. Das fand ich unglaublich großzügig. Wir kannten uns kaum und sind zusammen nach Mali und Senegal geflogen. In Dakar hat sie mich ihren langjährigen Freunden des Laboratoire AGIT’ART vorgestellt: Issa Samb und El Hadji Sy. Sie meinte, das seien die Leute, mit denen ich sprechen müsse – und das war auch so. Vor allem mit Issa Samb musste ich über diese Muschel sprechen. Er hat die Muschel für mich zum Sprechen gebracht. Der erste Teil des Interviews mit Issa Samb mit dem Titel „Die Muschel“[1] ist ein theoretisches und kulturphilosophisches Gespräch, und ist sehr wichtig für meine ganze Herangehensweise. Issa Samb ist zu meinem Lehrer oder geistigem Vater geworden. Was er sagt, ist für mich sehr zentral. Ich habe sehr viel von ihm gelernt. Wir sind auch immer noch befreundet. Ich war gerade erst vor zwei Wochen in Dakar. Dieses Gespräch ist die abstrakte Grundlage für die konkreten Arbeiten, wie beispielsweise die Arbeit für das Weltkulturen Museum mit den Steinen aus Papua-Neuguinea.
BB: Wie kam es zu der Brücke von den prähistorischen Steinen zu dem Roman „Picknick am Wegesrand“?
AM: Der Science Fiction Roman „Picknick am Wegesrand“ der Gebrüder Strugazki ist 1971 in der Sowjetunion erschienen und handelt von einer zukünftigen Gesellschaft, in der Aliens nach einem Besuch auf der Erde rätselhafte Objekte auf einem bestimmten Gelände hinterlassen. Sogenannte Stalker[2] gehen illegal in dieses Gebiet und holen diese Dinge, denn einige dieser sonderbaren Gegenstände haben Kräfte, die auf die Menschen einwirken. Beispielsweise kann man damit heilen oder Autos starten (die „Batterien“). Es gibt verschiedene Funktionen. Allerdings gehorchen sie anderen Naturgesetzen, und man weiß nicht, wie sie eigentlich funktionieren. Ein Objekt ist zum Beispiel die „Leere Null“, bestehend aus zwei Scheiben, in deren Mitte sich nichts befindet. Trotzdem kann man nicht dazwischen greifen, und niemand weiß warum. Die Steine aus Papua-Neuguinea, die ich untersucht habe, haben eine lange Geschichte. Sie stammen aus einer vorgeschichtlichen Kultur, von der man buchstäblich nichts weiß. Man weiß nicht, wie diese Menschen lebten, etc. Die Steine wurden in den letzten paar hundert Jahren von den heutigen Bewohnern Papua Neuguineas gefunden und genutzt. Sie wurden wegen ihrer magischen Wirkung im Männerhaus oder als Fruchtbarkeitszauber für die Schweine im Stall aufbewahrt. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Bewohner Papua Neuguineas diesen Gegenständen, die in ihren Augen von ihren Ahnen stammten, Funktionen zugesprochen: Einige waren dazu gut, Feinde zu töten, andere, um Schweine fruchtbar zu machen. Doch genau diese Funktionen oder Eigenschaften der Gegenstände sind für die westlichen WissenschaftlerInnen, oder WissenschaftlerInnen aus Papua-Neuguinea, die sich auf europäische, ethnografisch-wissenschaftliche Standards berufen, uninteressant. Die ganze Forschung dreht sich um die ursprünglichen, „authentischen“ Funktionen der Steine. Man nimmt an, dass einige davon zur Lebensmittelzubereitung als Mörser und Stößel dienten, obwohl das nicht wirklich klar ist. Es gibt einige Objekte mit figurativen Elementen, die sehr viel höher bewertet werden als die andern. Die Deutung der Papua, die einst die Steine fanden und teilweise im 20. Jahrhundert in den Missionsstationen ablieferten, wurde für unerheblich gehalten und läuft zum Teil konträr. Für die Papua waren beispielsweise nicht unbedingt die figurativen Elemente wichtig – es konnte auch ein unbehauener Stein sein, der für sie grossen Wert hatte. Ich finde sehr interessant, dass die Funktionalität dieser Gegenstände von den Papuas im magischen Wert (bzw. in der Verbindung zu ihren Ahnen) und von den westlichen WissenschaftlerInnen im Gebrauchswert lag. Da eine magische Funktion von den westlichen WissenschaftlerInnen negiert wird, war sie nicht relevant. Das habe ich untersucht und habe eine Brücke zu dem Science-Fiction-Roman der Brüder Strugazki geschlagen. Auch hier werden den ominösen Gegenständen Funktionen zugeschrieben, ohne dass man wüsste, um welche Objekte es sich ursprünglich handelte. Über die Aliens weiß niemand etwas, genauso wenig wie über die alte Kultur Papua-Neuguineas. Diese Parallele habe ich mit Frau Raabe besprochen, und es stellte sich heraus, dass auch sie ein großer Fan der Brüder Strugazki war. Das hat sehr geholfen. Sie hat einen schönen Text dazu geschrieben, der aus ihrer wissenschaftlichen Sicht einen Bezug zu dem Roman hergestellt hat.
BB: Oft wird im Zusammenhang von KünstlerInnen, die Arbeiten in ethnologischen Museen realisieren, von künstlerischer Forschung gesprochen. Wie würdest Du das beschreiben, was Du während Deiner Zeit am Weltkulturen Museum tatsächlich gemacht hast? War es eine Art Forschung? Oder war es eher ein künstlerischer Prozess? Könntest Du mir bitte eine Beschreibung Deiner Tätigkeiten geben?
AM: Artistic Research ist mittlerweile ein Schlagwort geworden. Ich kann mich erinnern, dass mich vor circa sechs Jahren in England Bekannte fragten, wie groß der Anteil von Artistic Research in meinem Werk sei. Ich habe damals das Wort zum ersten Mal gehört. Seit ich Kunst mache, tue ich nichts anders! Schon meine allerersten Ausstellungen hatten literarische Vorlagen. Meine erste Einzelausstellung 1993 basierte auf einem Roman von Samuel Beckett, die zweite hatte viel mit Immanuel Kant zu tun. Für mich war die Auseinandersetzung mit literarischen und philosophischen Texten schon immer wichtig. Auch historische Forschung war für mich, die neuere Geschichte und Sozialgeschichte an der Universität studiert hat, schon in den ersten Ausstellungen sehr zentral. Beispielsweise habe ich lange zu dem sogenannten feministischen Blick und der Geschichte der Suffragetten geforscht. Darum ging es in meiner ersten Ausstellung in einer Galerie. Mitte der 1990er Jahre war eine Herangehensweise wie die Recherche noch nicht so üblich. Bei mir ist das nichts Besonderes. Mein Denken läuft so. Meine Werke entwickeln sich aus Fragen, die ich mir stelle. Letztendlich ist der Begriff Artistic Research sehr unscharf, weil er sich heute auf Herangehensweisen bezieht, die sich in der Nähe von akademischen oder wissenschaftlichen Vorgehensweisen ansiedeln. Dem gegenüber bin ich jedoch skeptisch. Ich habe nichts dagegen, dass KünstlerInnen PhDs machen. Allerdings finde ich es problematisch, wenn der Wert einer künstlerischen Arbeit an den akademischen Titeln gemessen wird. Wenn ProfessorInnen aufgrund ihres Titels berufen werden und andere, die vielleicht Legastheniker, aber hervorragende BildhauerInnen sind, keine Chance bekommen, dann finde ich das sehr schade. Künstlerisches Arbeiten ist immer ein Forschen, ob nun am Material oder mit den Händen. Forschen muss nicht unbedingt mit Fussnoten dargestellt werden.
BB: Ich möchte noch einmal auf Dein Gespräch mit Issa Samb zurückkommen. Darin geht es um Objekte und deren Geschichte. Issa Samb deutet an, dass Objekte sprechen können. Ich habe das so gedeutet, dass es jenseits unserer Erkenntnis Dinge gibt, die wir nicht verstehen können. In unserer globalisierten Gesellschaft herrschen ganz gewisse Normen, wie Wissen zu Objekten generiert wird. Andere, vielleicht in vielen alten Kulturen gelebte, Formen der Annäherung an die Welt und seine Gegenstände werden in der modernen Welt ausgeklammert. Wie denkst Du darüber?
AM: Es ist sehr wichtig, präzise zu sein. Es gibt einen großen Diskurs über Animismus. Issa Samb ist sicherlich, schon wegen seiner Kultur als Lebou, Animist. Er ist gleichzeitig ein extrem präziser Philosoph, der auf postmarxistischen und postkolonialistischen Diskursen fußt. In unserem Gespräch sagte er mir: die Art, wie Objekte zu uns sprechen, hängt mit ihrer Geschichte zusammen, die immer eine menschliche Geschichte ist. Er sagt: „It is not ruled out that when giving it meaning—perhaps new meaning—you will take the cultural meaning into account that people, an individual or the culture that produced it, gave to it as a social function.“[3] Hier reden wir also über eine soziale Funktion von Objekten. Wir reden über Kulturen, über Menschen und über die Produktionsgeschichte von Objekten. Issa Samb redet beispielsweise über die Hände, die ein Objekt in China hergestellt haben. Selbst ein kleines, unbedeutendes, zerbrechliches Objekt aus China könnte, nachdem es durch viele Hände ging, nach Afrika gelangen. Diese Geschichte ist, so sagt er weiter, „In jedem Fall ist es heute sehr, sehr wichtig, in Bezug auf die Objekte und ihre Zirkulation, für das Verständnis der Völker und der Kulturen, dass jedes Objekt, das aus einem Land importiert wurde, um es in ein anderes Land, in eine Hand, in einen Sektor, auf einen Boden, dann auf einen anderen Boden zu bringen, dass es als durch eine ganze Geschichte Aufgeladenes betrachtet wird. Die Geschichte des Individuums, das das Objekt hergestellt hat – wenn es ein fabriziertes Objekt ist – oder die Geschichte der Völker, oder der Naturen des Landes oder des Raums, aus dem dieses Objekt zu uns gekommen ist, falls es nicht in seiner Herstellung die Hand des Menschen kennengelernt hat. (…)“[4]. Weiter heißt es: „Ihr Objekt, woher es auch kommt, dieses Objekt aus China trägt ganz China in sich. Selbst das unscheinbarste Objekt trägt ganz China in sich. Also besitzen Sie in Ihren Händen alle möglichen und vorstellbaren Wege der Kenntnis von China und darüber hinaus… (…) Wenn das hier zum Beispiel ein Objekt ist, das aus China zu uns gekommen ist, wie Sie sagen – selbst wenn wir eine Vorstellung davon, einen Blick auf das Objekt hätten, dann ist es trotzdem notwendig, um unseren eigenen Blick auf das Objekt besser zu verstehen, dass man die Bedeutung des Objekts in Bezug auf den Ort seiner Herkunft tiefer ergründet, da es ein kulturelles, sozialisiertes Objekt ist.“[5]
Dass heißt: Diese Objekte sind kulturell sozialisiert. Das ist die eine Ebene. Es gibt sozusagen eine Sprache der Objekte, die eine Sprache von Menschen ist. Wir erfahren durch diese Objekte weitere Dinge über andere Menschen. Wir erfahren nicht notwendigerweise etwas über das Objekt selbst. Das Objekt bildet einen Bestandteil von einem Netz von Bedeutungen, die insgesamt eine materielle Kultur ausmachen. Issa Samb spricht von der globalisierten Welt und ihrem wilden Kapitalismus. Wie, wo, und unter welchen Bedingungen das Objekt produziert und gehandelt worden ist, spielt für ihn eine ganz große Rolle. Beispielsweise interessieren ihn Machtverhältnisse oder Kolonialgeschichten, die damit verbunden sind. All das schreibt sich in das Objekt ein. In dem Moment, in dem wir es in den Händen halten, hat es eine Geschichte. Das war für mich und meine ganze Herangehensweise zuvor schon immer sehr wichtig gewesen. Issa Samb sagt es auf eine Art, die sehr klar ist.
Des Weiteren sagt er, dass es nicht eine Frage der Interaktivität sei, sondern eine Frage der Beziehungen von allem Lebendigen untereinander. Jetzt stellen sich die Fragen: Was lebt? Was ist Leben? Hier kommt nun der Animismus ins Spiel. Issa Samb erklärt: „Die Objekte sprechen ihre Sprache. Der Wind spricht. Der Wind spricht seine Sprache. Die Vögel sprechen. Sie sprechen ihre Sprache. “[6]
Die Frage, die ich mir stelle, ist: Gibt es irgendeine eine Möglichkeit, diese Sprache zu übersetzten oder zu sprechen? Wie könnten wir mit Vögeln sprechen? Dass sie ihre eigene Sprache sprechen, ist klar. Vielleicht sprechen auch Steine ihre eigene Sprache. Aber das heißt nicht unbedingt, dass wir sie verstehen können. Was wir verstehen können: auf welche Weise der Stein, den wir vor uns haben, durch Menschen bestimmt worden ist. „Dieses Objekt da trägt Sinn in sich. Es informiert uns über die ideologische Situation nicht nur in China, sondern des globalisierten Systems der Welt, der Globalisierung. Die Globalisierung als die herrschende Ideologie der heutigen Welt.“[7], so Issa Samb weiter.
Aber dann gibt es noch eine weitere Ebene. Issa Samb fragt mich: „Ist es nun notwendig zu wissen, ob es Sie selbst sind, die einen Blick auf das Objekt haben – etwas in Ihrem Inneren – eine gewisse Innerlichkeit, die Sie zum Objekt drängt – oder ob es das Objekt selbst ist, das eine ihm eigene Energie enthält, etwas, das nach Ihnen ruft? (…) Oder ist es so, dass das Objekt eine eigene Energie enthält, seine eigene, die in Bezug steht zu derselben Energie, die auch in Ihnen ist, die auch außerhalb von Ihnen tätig ist – außerhalb sowohl von Ihnen selbst als auch vom Objekt“[8]
Am Schluss konstatiert er: „Und die Objekte, das lässt viele Dinge zu…aber man braucht Respekt, und das ist das Schwierigste, vor allem aus einer okzidentalen Perspektive, das Objekt an sich zu betrachten; ihm eine andere energetische Aufladung zuzuerkennen als eine zu oberflächliche oder diejenige, die die Maschine gibt. Denn man weiß, dass es ein Unfall ist, dass man diesem Stein diese Energie, dieses Wort, diese Kraft nicht zuerkennen möchte – ohne sich einem Gott, dem einzigen Schöpfer, gegenüber zu sehen. Und selbst mit dem Tod Gottes wollen die maschinistischen oder industriellen Zivilisationen nicht so weit gehen. Denn sofort steht man wieder dem einzigen Schöpfer gegenüber. Was dich wieder in eine ganze Polysemie führt – man würde gern den Objekten einen neuen Sinn geben, verschiedene Bedeutungen, man hätte gern, dass es verschiedene Bedeutungen gibt. Das ist immer noch die Weigerung zu akzeptieren, dass es über die Bedeutung hinaus, die wir selbst uns geben, oder die Völker den kulturellen sozialisierten Objekten geben, einen Sinn gibt, den diejenigen Objekte geben, die wir selbst nicht erschaffen haben. Aber man muss den Mut haben, diese Schwelle zu überschreiten. Anzuerkennen, dass man darüber hinaus selbst das Objekt aufladen kann, das Objekt bereits in sich eine Kraft besitzt, ein Leben, das etwas bedeutet – unabhängig von unserem Willen, unseren Bedürfnissen, unseren Wünschen, unseren ästhetisierenden Sorgen, von unserem Willen, es die Richtung nehmen zu lassen, die wir ihm vorzeichnen.“[9]
Hier werden zwei Dinge deutlich: Zum einen geht es um Gott. Isam Samb kommt als Lebou aus einer animistischen Kultur, für die zum Beispiel Baobabs Personen sind. Im Kontext von Senegal ist das keine Frage. Vielleicht denken manche SenegalesInnen heute nicht mehr so, aber ursprünglich war es allen klar, das bestimmte Bäume belebt sind. Man opferte ihnen Dickmilch. Gleichzeitig gibt es im Senegal eine alte islamische Kultur. Die Bruderschaft der Mouriden, die Baye Fall leben einen sehr spirituellen, mystischen Islam. Doch, wie mir Wasis Diop sagte: auch im Animismus stellt das höchste Prinzip so etwas wie eine abstrakte Lebenskraft oder ein Grundgesetz dar. Es ist der abstrakte Grund allen Daseins. Das ist sehr philosophisch. Das ist nicht der personalisierte Gott der abrahamitischen Religionen. Es handelt sich eher um ein abstraktes Grundprinzip, das auf dem Grund allen Daseins liegt und eine Lebenskraft darstellt. Diese Lebenskraft erfüllt nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, sondern beispielsweise auch Steine. In dieser Hinsicht kann man sagen, dass es eine Relation gibt zwischen der Lebenskraft, die in mir ist und der, die sich im Stein befindet. Das kann ich aber erst erkennen, wenn ich weiß, dass es diese Lebenskraft überall gibt. Es handelt sich also nicht um eine Art esoterischen Quatsch nach dem Motto: „Ich rede mit dem Bergkristall und er erzählt mir, wie ich meine Wünsche befriedigen kann.“ Es geht darum, anzuerkennen, dass alles aus dem Grund dieses abstrakten Prinzips kommt, das dazu führt, dass sich Alles ständig mit- und ineinander transformieren kann. Issa Samb gebraucht gerne die Begriffe der Transformation und Transmutation. Gleichzeitig muss man anerkennen, dass in der Ausdifferenzierung in die verschiedenen Gegenstände, Pflanzen, Tiere und was auch immer, alle gleichwertig sind. Wir Menschen sind den Tieren, Pflanzen oder Steinen nicht überlegen. Alles ist von derselben Energie erfüllt und deshalb auch nicht hierarchisch geordnet. So verstehe ich das. Das heißt dann aber auch, man muss den Stein oder den Baum respektieren, als ein Gegenüber, als etwas, das man nicht nur gebrauchen kann und das man nicht nur in Bezug zu sich selbst als Mensch setzt. Es ist etwas, das sein Eigenleben hat und mit meinem Leben vielleicht nichts zu tun hat. Wir sind verbunden durch diesen selben Urgrund.
BB: Vor einigen Jahren habe ich mich mit Religionen und im speziellen mit Animismus beschäftigt. Die christliche Tradition hat Gott in ein Jenseits, oder ins himmlische Paradies ausgelagert. Wenn der Mensch seine Prüfungen auf der Erde besteht und keine schwerwiegenden Sünden begeht, wird er nach seinem Tod ins göttliche Himmelreich aufgenommen. Das impliziert, dass es auf der Erde und in uns Menschen zu Lebzeiten nur eine Annäherung an Gott gibt. Für unser Dasein auf der Erde hat das massive Konsequenzen. Im Animismus verhält es sich geradezu konträr. Das Göttliche ist in uns und in allem Existenten, im Hier und Jetzt, nicht in irgendeinem Paradies. Der Mensch und die gesamte Welt sind göttlich. Das wiederum sorgt für einen ganz anderen Umgang.
AM: Im Animismus gibt es keine Unterscheidung zwischen Himmel und Erde, oder zwischen Materie und Geist – beispielsweise ist die ganze Welt voller Geister. Alles, was Materie ist, ist auch Geist. Auch die Toten kann man vielleicht nicht sehen, aber sie leben genauso wie wir. Diese Durchdringung von einer unsichtbaren und sichtbaren Welt ist sehr wichtig. Ich kann Dir aber nur das erzählen, was ich durch meine Gespräche, die ich kürzlich geführt habe, erfahren habe. Ich habe keine ethnografischen Bücher über Animismus im Senegal gelesen. Ich fände es interessant, mich intensiver damit zu beschäftigen. Alles, was ich Dir jetzt erzählen kann, basiert auf Gesprächen, die ich mit Issa Samb, aber auch mit seinen Freunden Abdouleye Bâ, Alioune Diouf, Alpha Balde, und Wasis Diop, die sich auch im Hof des Laboratoire AGIT’ART aufhalten, geführt habe.
BB: Wenn man nun diese Weltbilder, also die der modernen, westlichen und die einer animistisch geprägten Gesellschaft auf das ethnologische Museum, seine Sammlungen, Kategorien und Strategien überträgt, dann hat das Objekt, sobald es von Forschern ins Museum gebracht wurde, eine neue, andere Bedeutung bekommen oder ein neues Leben begonnen. Das Objekt befindet sich in einem neuen Kontext und bekommt ein komplett anderes Weltbild übergestülpt. Vielleicht hast Du eine Idee: Wie könnte man in ethnologischen Museen beiden Weltbildern gerecht werden? Wie könnte man diese an sich konträren Vorstellungen repräsentieren?
AM: Zuerst muss ich sagen, dass ich mir nicht so sicher bin, dass ein Objekt im Museum ein neues Leben bekommt. Es bekommt eine neue Bedeutung zugeschrieben. Ich finde es sehr wichtig, was Clémentine Deliss vorhatte: Die Objekte kommen wieder in einen lebendigen Zusammenhang, sie werden buchstäblich überhaupt mal wieder in die Hände genommen. Viele dieser Sachen waren Dinge für den täglichen Gebrauch. Sie waren nicht dafür gemacht, in einer Vitrine oder einem Panzerschrank verschlossen zu liegen. Das ist für die Objekte ein völlig unnatürlicher Zustand… gut… „natürlich“ ist ein sehr weiter Begriff. Auch die Klassifizierung und der neue Zusammenhang, dass beispielsweise ein Bogen zu den 150 andern Bögen, die es schon gibt, dazugestellt wird, sind im ursprünglichen Kontext völlig sinnlos. Wozu braucht jemand, der nie jagen geht, 151 Bögen? Aus der Sicht der Kulturen, aus denen diese Dinge kommen, kann diese Masse an Objekten nur einen Sinn haben, und das ist der einer Grabbeigabe. Für mich sind all diese Objekte im Museum Grabbeigaben, und was wir hier beerdigen, sind die Kulturen, die angeblich ausgestellt werden sollen. Ein Beispiel: Man bohrt eine Pyramide oder einen Tumulushügel auf. Das ist der einzige Fall, bei dem man tatsächlich in der Vergangenheit 150 Bögen oder 30 Prunkgefäße, also Dinge, die man sonst im Alltag gebraucht hat, plötzlich in so einer Masse findet. Man wollte damit den Reichtum eines Menschen darstellen, und dieser Reichtum sollte den Verstorbenen ins Totenreich begleiten. Es sollte diesem Menschen dort an nichts fehlen. Ich bin mir nicht sicher und kann nicht genau sagen, was für eine Transformation durch die Museen stattgefunden hat. Die Transformation bestand ja daraus, dass die EthnografInnen, zum Teil im vollen Bewusstsein, in Länder gefahren sind, von denen sie wussten, dass die Kolonialregierungen gerade Kulturen zerstören. Sie sind bewusst und genau aus diesem Grund in diese Länder gefahren. Bis heute wird ihnen das zugute gehalten. Die EthnografInnen seien ja die einzigen, die diese materielle Kultur bewahrt hätten, die es sonst nicht mehr gäbe und man nicht mehr sehen könnte. Aber für wen haben sie diese materielle Kultur bewahrt und aus welchem Grund? Das ist doch die Frage. Nehmen wir einmal den Fall von Kamerun, einst deutsche Kolonie. Ich war mit meinem Lebenspartner, der väterlicherseits Kameruner ist, im ethnografischen Museum in Dahlem. Wir haben gesehen, was dort alles im Depot ist. Er meinte: „Das sind Schränke und Schränke und Schränke mit Dingen, die nie jemand zu sehen bekommt.“ Es ist das reine Haben und Besitzen… sich Vergewissern… ja, ich weiß auch nicht. Es ist etwas ganz Eigenartiges. Dieses ganze Haben und Besitzen einer fremden Kultur, die man sich einverleibt, angeeignet oder „aufgefressen“ hat…
Das Andere wären vielleicht Triumphzüge. Ähnlich der Triumphzüge im alten Rom, bei denen die Waffen und Schätze der Besiegten durch die Stadt getragen wurden. Vielleicht ist auch das eine Funktion… ich weiß es nicht. Mein Lebenspartner meinte, wenn man nun in ein Museum in Kamerun geht, in Yaoundé, dann gibt es dort nur einen Bruchteil vom dem, was es in Deutschland gibt. Andererseits ist das vielleicht auch natürlich, weil die Menschen in den Gebieten, den Königreichen, aus denen die Kolonialregierungen zusammengeschustert haben, was sie dann Kamerun nannten, eigentlich gar keinen Anlass hatte, diese Sachen zu sammeln. Das ganze Konzept eines Museums ist von den Kolonisatoren importiert. In Kamerun gibt es beispielsweise nach wie vor Könige mit funktionierenden Hofstaaten, wo ganz viele von diesen Sachen noch im Gebrauch sein können. Oder man hat es mit Holzobjekten zu tun, die ursprünglich dafür gedacht waren, dass man sie irgendwann aussortiert. Diese Gegenstände befanden sich ursprünglich in dem Moment, in dem sie in einem kulturellen Flux waren, genau wie unser menschliches Dasein, in einer Art transformatorischen Prozess. Die europäischen Museen machen etwas ganz Seltsames: Sie schneiden, wie mit einer Schere, den Zeitstrom ab und bringen die Sachen in ihren Grabhügel. Warum machen diese Museen das? Man nimmt einen kleinen Korb, der einst zum Fischen bestimmt war, in die Hand. Ursprünglich sind seit der Jungsteinzeit, oder wann auch immer man damit begonnen hat, diese Körbe zu flechten, Millionen von diesen Körben geflochten worden. Normalerweise haben die irgendwann ein Loch und werden weggeschmissen. Aber dieser Korb hier ist jetzt, mit einem speziellen Mittel behandelt, irgendwo in einer Vitrine. Die Kustodin darf ihn nur mit weißen Handschuhen anfassen und er wird nie wieder einen Fisch fangen. Und das muss jetzt so bleiben bis… man weiß eigentlich nicht bis wann…, denn man hat ja diesen Betonbunker. Es ist ein totales Sakrileg, darüber nachzudenken, dass man diesen Korb genauso wegschmeißen könnte, wie der andern davor.
BB: Du bringst das sehr gut auf den Punkt.
AM: Ich bin noch nicht damit zu Ende, zu überlegen…ich habe keine Ahnung, ich habe keine Antwort darauf. Andererseits bin ich natürlich auch mit ethnografischen Museen groß geworden. Ich habe es immer geliebt, mir diese Sachen anzusehen und sehr viel von diesen Museen gelernt. Das muss ich auch sagen. Natürlich vermitteln diese Sachen etwas, und wenn es auch nur das Staunen darüber ist, wie kunstfertig und großartig Leute Dinge hergestellt haben. Das ist nicht viel mehr, als in einer Wunderkammer passiert wäre, aber es hat auch mit Respekt zu tun. Das ist eine sehr ungenaue Antwort, aber das liegt daran, dass ich Dir da keine Antwort geben kann. Zum Glück leite ich nicht ein solches Museum. Das wäre ganz schrecklich.
(beide lachen)
BB: Ja, es ist eine sehr vielschichtige und komplexe Thematik. Ich denke, diese Dinge sind ihres Kontexts entrissen worden und es fehlen die Menschen, die Rituale, Feste und Zeremonien, genauso wie alle alltäglichen Tätigkeiten. Du hast eine sehr klare Sicht auf diese Problematik. Beschäftigst Du Dich auch heute noch mit ethnologischen Museen und deren Sammlungen?
AM: Ja. Ich habe im Moment kein konkretes Projekt in einem Museum, aber mit der Fragestellung beschäftige ich mich auf jeden Fall.
BB: Es geht um Neubestimmung und prozessuale Denkanstöße innerhalb dieser Museen. Ein wichtiger Punkt ist es, den Herkunftsländern und Kulturen gerecht zu werden und angemessenen Respekt zu zollen. Wäre in Deinen Augen eine engere Zusammenarbeit mit globalen Partnern eine mögliche Herangehensweise?
AM: Ich hatte im Rahmen einer musealen Sammlung eine Idee. Ich hatte mit der Künstlerin Otobong Nkanga länger darüber gesprochen. Es ging um die Frage der Restitution. Sie meinte damals, dass sie sich als Nigerianerin nicht ganz sicher sei, ob es richtig ist, die Sachen zurückzugeben, da die Objekte vermutlich sehr schnell wieder im Kunsthandel landen würden. Daraufhin fragte ich, wie es denn wäre, wenn man nicht nur die Sachen zurückgibt, die aus Nigeria stammen. Nehmen wir ein Beispiel: Dahlem verfügt über 150 Bögen, von denen immer nur zwei oder drei ausgestellt werden. Anstatt Nigeria nur die nigerianischen Objekte zurückzugeben, könnte man anders verfahren. Auch die NigerianerInnen haben das Recht zu sehen, welchen Reichtum an Kulturen es auf der ganzen Welt gab. Vielleicht wäre es für nigerianische Kinder sehr interessant zu sehen, wie Eskimos sich früher angezogen haben. Vielleicht wäre es für nigerianische ModemacherInnen spannend, sich bayrische Trachten anzusehen. Deswegen war meine Idee: Wenn überhaupt Restitution, dann nicht nur die jeweiligen Objekte an ihre Herkunftskulturen, wenn es sie noch gibt. Es ist wichtig zu sehen, dass wir in einer globalisierten Welt leben und nicht mehr von den Nationalstaaten ausgehen können. Man könnte überlegen, wie man über die ganze Welt verteilt Wissensdepots bilden könnte, wo Menschen Sachen ansehen, in die Hand nehmen, studieren und etwas daraus lernen, oder auch nur sich wundern und staunen könnten. Das hieße dann aber auch, dass man von den 150 Bögen aus, sagen wir, Sumatra, zwei nach Nigeria gibt. Das fände ich super. Das wird natürlich nie jemand machen, denn die Museen tun sich ja schon schwer, mal einen Gegenstand dahin zurückzugeben, wo er einst herkam (lacht)… dann auch noch freiwillig andere Länder mit Gegenständen zu beschenken, die man im Depot hat… das würde, glaube ich, niemand machen. Aber das wäre das einzig Faire. Man müsste sagen, dass die Zeit des Kolonialismus eine sehr kurze Zeitspanne gewesen ist, in der nur die Europäer zum Zug kamen, in dem sie alte Kulturen plünderten. Das wird sich nicht mehr wiederholen lassen, schon allein deswegen, weil viele dieser Kulturen bereits zerstört sind. Ich finde, man müsste, um das wenigstens ein bisschen wieder gut zu machen, die Schätze auf die ganze Welt verteilen.
BB: Larissa Förster, eine an diesem Diskurs aktiv teilnehmende Wissenschaftlerin, hat einmal bei einer öffentlichen Gesprächsrunde im GRASSI Museum Leipzig, zu der ich anwesend war, gesagt, dass man eine Art Container, bestückt mit allerlei Objekten, um die Welt schiffen könnte. Somit könnte man Menschen global Zugang zu diesen kulturellen Artefakten verschaffen. Der Container, oder auch mehrere, könnte man in Städten und an verschiedenen Orten wochenweise aufstellen und der Öffentlichkeit präsentieren…
AM: Auch das wäre eine Möglichkeit. Das Besitzrecht bliebe dann bei der Bundesrepublik…
(beide lachen).