AM: Ulrike Kuschel schlug vor, die Ausstellung „Wasser, Gossen, dicke Luft“ im Museum Mitte von Berlin zu besuchen, und wir führten ein wunderbares Gespräch und lernten viel über die Kanalisation, die Rieselfelder und die Bebauungspläne im Berlin des 19. Jahrhunderts. Beim Verlassen des Palais am Festungsgraben kam uns der Bundespräsident entgegen, der uns höflich grüßte. Erst als wir uns draußen mit zwei Müllwagenfahrern darüber unterhielten, für wen hier eigentlich Kränze niedergelegt worden waren – es wußte keiner von uns – wurde mir klar, daß mein Aufnahmegerät nicht funktioniert hatte. Bei unserem nächsten Treffen stehen wir vor verschlossenen Türen, und ich schlage vor, in die nahegelegene Alte Nationalgalerie zu gehen und dort einen Kaffee zu trinken, bevor wir uns die ständige Sammlung anschauen würden.
AM: Ich glaube, hier gibt es gar kein richtiges Café.
UK: Da drüben.
AM: Hallo!
Verkäuferin im Museumsshop: Hallo!
AM: Wir hätten gerne zwei – zwei Kaffee, oder?
UK: Ja!
Verkäuferin bereitet Kaffee zu.
UK: Kann man sich da oben hinsetzen?
AM: Ja, zu den ganzen Gipsabgüssen.
Wir blättern in Büchern.
AM: Schau mal hier, „Die jüdische Welt“.[i] Hast du das?
UK: Nein. Das hab ich auch noch nie gesehen.
AM: Guck, die sind von dem Roman Vishniac, die Fotos.
UK: Den kenn ich gar nicht.
Dorfältester in Karpatho-Ruthenien. Photographie von Roman Vishniac, 1938 ( S.40)
AM: Den hab ich noch kennengelernt. Ein wichtiger Fotograf für die ganzen Schtetls in Polen und…
UK: Wo hast du den kennengelernt?
AM: Meine Großeltern kannten den. Der ist später nach Amerika emigriert. Das ist ganz abenteuerlich. Der ist damals herumgezogen und hat in dem Gefühl, daß das bald alles nicht mehr existiert, heimlich fotografiert und hat wirklich tausende oder zehntausende von Fotos gemacht…[ii]
UK: In den zwanziger und dreißiger Jahren oder wie?
AM: Ja, in den Dreißigern. Auch in den Ghettos, die es damals dann schon gab, zuletzt unter den Nazis, als Polen schon besetzt war.
UK: Und er konnte sich noch frei bewegen?
AM: Ja, ich weiß nicht genau, weshalb, das hab ich vergessen, wie und warum er dann raus konnte. Und er hat die Bilder auch rausgeschmuggelt und der größte Teil davon ist verloren gegangen.
Meine Großeltern, die haben den im Engadin kennengelernt, der ist halt immer –
UK: Engadin ist in der Schweiz.
AM: Ja. Der wohnte dann in Amerika und hat Fotos gemacht für Wissenschaftszeitungen, Mikroskopaufnahmen und so Sachen, und ist dann immer mit seiner Frau ins Engadin gefahren.[iii] Und ich kann mich sehr gut daran erinnern – also ich war da vielleicht vierzehn oder so? – und das war irgendwie sehr eindrücklich. Die waren beide relativ klein. Seine Frau Edith war so, wie man sich eine Großmutter vorstellt, mit weichen weißen Haaren und eine rundliche Figur, und er auch, so was Rundliches, Liebes. Also ich mochte die sehr gerne, beide. Und er hat uns dann Dias gezeigt – zuletzt hat er sich mit den Elementen beschäftigt, Wasser und Feuer fotografiert, das waren ganz tolle Dias. Und das ist für mich alles so eins, daß man in diesem Hotel sitzt, das war etwas ganz Besonderes – wir sind ja nie in Hotels gegangen, von unserer Familie aus – und draußen sind die Gletscher und diese riesenhohen Berge, und dann sitzt man drinnen und es gibt ganz besonderen Käse –
UK: – und Engadiner Nußtorte –
AM: – und dann diese großartigen Dias vom Feuer, die wirklich ganz –
UK: Die hat der im Hotelrestaurant gezeigt?
AM: Nein, nicht im Restaurant, sondern ich glaube, auf seinem Zimmer.
UK: Projiziert auch?
AM: Ja! Ich weiß noch genau diese Farben, es war wirklich wie so eine Wunderwelt. Ich glaube, er hat auch Kristalle fotografiert. Ich kannte auch so tolle Wissenschaftsfotografie eigentlich gar nicht.
UK: Woher wußtest du diese anderen Sachen?
AM: Na, irgendwann tauchte das auf, da war er dann schon verstorben, da gab es dann so einen großen Band, der stand bei meiner Großmutter herum, davon hat sie gleich ganz viele gekauft und die auch der Verwandtschaft geschenkt.[iv]
UK: Na, mir ist ja immer nur einer untergekommen, der Abraham Pisarek[v], ich weiß nicht, ob du mal von dem mal gehört hast.
AM: Ja, der ist ja auch ganz berühmt.
UK: Der hat dann nach 1945 in beiden Teilen von Berlin fotografiert. Dann war er, glaub ich, im Westen. Ullsteinbild hat auch von dem viel da. Er gehörte, glaub ich, auch zu diesen Rosenstraßenleuten, er lebte in einer sogenannten Mischehe und ist deswegen nicht deportiert worden.
AM: Hm. Na, vielleicht sollte man das Buch kaufen.
UK: Dieses?
AM: Dieses da drüben.
UK: Für mich? Oder für dich?
AM: Ja, mal reingucken. Lacht.
UK: Ich habe total viele Bücher gerade von Ullsteinbild mitgenommen.
AM: Durftest du?
UK: Die haben sich ja verkleinert, räumlich, und haben von ihren Belegexemplaren einfach auch ganz viele rausgeschmissen.
AM: Und dann durfte man sich das einfach aussuchen?
UK: Ja. Und da hab ich dann auch so ein Buch mitgenommen, Lexikon des Judentums, das ist noch richtig mit Lettern gedruckt. So ganz toll. Also es ist eigentlich total dick, aber es wiegt nicht viel, weil das so besonderes Papier ist. Aus den sechziger Jahren.
AM: Und wohin sind die umgezogen?
UK: In diese schreckliche Springer-Passage.
AM: Kannst du dann eigentlich da auch recherchieren für deine Sachen?
UK: Weiß ich nicht. Da recherchieren immer schon mal Leute, aber eigentlich wollen sie das nicht mehr so richtig. Das ist natürlich kostenpflichtig. Ich hab nur einmal angefragt wegen einem Foto, was ich verwenden möchte, und da hat die eine Abteilungsleiterin gesagt, daß sie das besprechen würde und daß sie glaubt, daß das geht. Aber ich denke, das sind absolute Ausnahmefälle.
AM: Aber hast du denn das Gefühl, bei einem Bilderdienst zu arbeiten, daß das dann irgendwas mit deiner Arbeit zu tun hat? Daß es irgendeine Wechselwirkung gibt?
UK: Ja, auf jeden Fall. Weißt du, man lernt unheimlich viel die ganze Zeit. Ständige Wissenserweiterung.
AM: Einfach durch die Fotos, die man sich anschaut.
UK: Genau. Und du guckst ja auch, welche Informationen da noch so enthalten sind. Manchmal, da staunt man dann einfach nur.
AM: Also praktisch, jemand anderes fordert was an, für einen Artikel –
UK: Nee, so was mache ich nicht, das machen die qualifizierten Kräfte, so Recherchedienst. Im Grunde genommen, glaube ich, könnte ich das auch machen, aber dafür bin ich nicht da. Ich mache nur Rücksortieren oder Scannen. Aber beim Scannen guckst du ja am Monitor so ein Foto manchmal total lange an, und zoomst dann da so rein, weil du da irgendwelchen Staub wegtupfen mußt, und bewegst dich dann in dem Bild, und manchmal auch einfach aus Interesse. Und dann ist natürlich interessant, was hinten noch draufsteht, also manchmal eben auch diese historischen Archivierungen. Zum Beispiel gab es mal ein Foto, das war total hart, aus den dreißiger Jahren, als der Ullstein Verlag schon der Deutsche Verlag war[vi], und da war einer drauf, ich glaube, das war ein Segelflieger oder so, und auf der Rückseite stand dann mit rotem Buntstift: Achtung, Sowieso ist Jude! Einfach, um die Redakteure darauf hinzuweisen, daß der sozusagen nicht mit abgebildet werden soll, oder daß man dieses Foto eben nicht verwendet.
AM: Und du hast dann die Originale in der Hand?
UK: Ja, beim Scannen und Rücksortieren.
AM: Aber da trägst du Handschuhe, wahrscheinlich.
UK: Nein.
AM: Ehrlich?
UK: Nein, da wird da dran gearbeitet, mit Händen. Also bei denen ist das halt so ein Gebrauchsarchiv. Die haben dann extra ein Originale-Archiv, wo sie die wertvollen Sachen rausziehen und davon Duplikate herstellen. Aber auch im normalen Archiv haben die dann da Abzüge, weißt du, auf so ganz dünnem, schönen Papier, von den Gebrüdern Haeckel[vii] von 1905 oder so, und die sind in den ganz normalen Mappen drin, wo auch die schrecklichen PE-Papier-Abzüge sind.
AM: Und haben die dann noch ein Negativarchiv?
UK: Haben die auch.
AM: Ja, ich stell mir das schon auch toll vor. Neulich hat mich eine Freundin mitgenommen zu einem Auktionshaus, da war ich auch noch nie, Grisebach[viii]. Das war irgendwie wahnsinnig toll. Die versteigern auch Fotos, und dann haben die da einen Tisch voll mit Kartons liegen, und du kannst einfach so die Kartons einen nach dem anderen runter heben, wenn dich was besonders interessiert, auch den Karton aufmachen, da ist dann noch so ein dünnes Plastikding vor dem Foto, aber das kannst du auch wegheben und es dir angucken. Und da ist dann so alles an Fotografen, was du möchtest, gibt’s da einfach so.
UK: Da mußt du aber Handschuhe anziehen.
AM: Nee, wenn du die dann wirklich anfaßt, schon, aber sonst beim Rumheben nicht. Und eigentlich wollte ich wahnsinnig gerne was ersteigern. Das ist so verrückt, die hatten Naum Gabos, Skulpturen, so kleine Fotos waren das, da wußte man nicht genau, ob Naum Gabo die Fotos selber gemacht hat, wahrscheinlich hat er die im Studio machen lassen, aber es war ganz offensichtlich von ihm so arrangiert vor einem neutralen Hintergrund, also richtig Kunstfotografie von seinen Objekten, die sozusagen wie eine eigene Arbeit ist, und die sollte 300 Euro kosten. Naum Gabo! Und da dachte ich, das will ich haben. Und dann konnte ich aber an dem Morgen nicht. Aber das sah so toll aus. Oder dann hatten die ein Foto von Malick Sidibé[ix], das ist ein afrikanischer Fotograf, den ich ganz toll finde.
UK: Ich weiß nicht, vielleicht hab ich das das letzte Mal auch schon erzählt, wie schockiert ich war, als ich das erste Mal da war und gesehen hab, wie die Fotos da in Mappen gelagert werden und daß man die mit den Händen einfach rausnimmt und die Ecken sind angestoßen und so. Weil man eben aus dem Kunstbereich den Umgang mit Fotos ganz anders kennt. Natürlich gehen die Künstler mit ihren eigenen Sachen auch wieder anders um, aber sobald das in einer Galerie ist – mit Seidenpapier, ich weiß nicht, ob du Seidenpapier hast? Ich hab so was überhaupt nicht.
AM: Zu Hause? Nee. Aber ich hab ja auch keine Fotos, so in dem Sinn. Also meine Fotos sind ja auch Gebrauchsfotos. Sobald ich die fertig hab, dann benutze ich die ja als Malvorlage und da kommt dann halt auch Farbe drauf und zum Schluß sind die dann total verwutzt. Lacht. Da gibt es schon auch was, was einem daran widersteht, daß das Foto so was Unberührbares haben soll. Mich hat das immer eher aufgeregt. So ein Foto, das ist ja auch nur so ein Stück Wirklichkeit, weißt du, und dann hast du ja auch noch ein Negativ, du kannst es eigentlich reproduzieren. Und daß das verwandelt wird in so ein Juwel. Also mir ist es irgendwie lieber, wenn man damit vertrauter umgeht, es eben auch in die Hand nimmt.
UK: Wenn man damit arbeitet, klar. Also gestern war ich bei Eva, die hat von mir so zwei kleine Fotos aufgehängt, und sie hatte Besuch, und sie sagte dann: das sind zwei Fotos von Ulrike. Ich hab dann gesagt, also das eine, das ist schon Kunst, das ist Kunst dann aber in einem anderen Format, nicht in diesem kleinen Probeabzug, aber es ist schon so, das ist Kunst; und das andere eben nicht. Das ist so ein kleines Schwarz-Weiß-Foto gewesen. Und da war sie dann so ein bißchen irritiert: Wie, das ist jetzt keine Kunst? Und dann hab ich gesagt: Nee, das ist Material. Man macht halt so viel. Für bestimmte Dinge entscheidet man sich. Das ist ja deswegen nicht schlecht, aber das habe ich nicht richtig ausgearbeitet, das ist einfach nur ein Foto.
AM: Kannst du das genau sagen, ab wann was dann Kunst ist? Wo das noch ein Foto ist?
UK: Dieses da, das war eben einfach: da habe ich was gesehen und das fotografiert und habe einen kleinen Abzug von gemacht. Und das steht ansonsten in keinem weiteren Zusammenhang. Da habe ich mir nicht groß überlegt, was ich damit mache. Das ist ganz normal, wie so ein Probeabzug einfach. Und bei den anderen Arbeiten, da sind das ja schon längere Prozesse. Wie man was kombiniert oder was dahinter steht. Wird das jetzt eine Serie oder ist das eine Projektion.
AM: Also das Foto ist erst in dem Moment, wo ein größeres Konzept dahinter steht –
UK: Ja, oder wo ich mich so richtig dafür entscheide, das in einem bestimmten Format zu vergrößern zum Beispiel. Und diese Entscheidung hab ich bei so einem kleinen Abzug ja überhaupt nicht getan.
AM: Aber könntest du dir auch vorstellen, daß ein Foto ganz für sich steht? Außerhalb von einer Serie?
UK: Na klar, ja.
AM: Machst du so was auch?
UK: Ja, also grob über einen längeren Zusammenhang kann man dann auch wieder andere Fotos sozusagen dazusortieren.
AM: Welches denn zum Beispiel?
UK: Na, diese ganz großen Bilder. Beispielsweise in der Ausstellung[x] dieses Thälmann-Park-Foto. Es gibt in dem Format halt einige, und ich stell mir schon auch vor, daß immer mal wieder auch so ein großes Foto dazukommt. Man könnte die irgendwann mal als Serie zusammenfassen, aber an sich sind es Einzelfotos.
AM: Und sonst bei den Serien, da hast du erst das Interesse für ein bestimmtes Gebiet und gehst dann hin und fotografierst es oder…
UK: Ja, oder ich entdecke irgendwas und fotografiere ein bißchen und dann vertieft sich das vielleicht. Aber manchmal, gerade bei diesen Sachen, die ich unterwegs gemacht hab, da habe ich halt einfach Material gesammelt, irgendwas, was mich interessierte, und habe dann am Ende erst den Faden dazu entwickelt.
AM: Aber jetzt bei dieser neuen Arbeit, zum Jüdischen Friedhof, wie war das?
UK: Also ich hab gemerkt, daß ich da noch nie bewußt war. Meine Eltern haben mir auf Nachfrage gesagt, daß wir da schon als Kinder spazieren gegangen sind, aber ich kann mich daran überhaupt nicht erinnern. Also als Erwachsene bin ich da einfach nie gewesen. Und ich war dann dort, und es hat mich sehr beeindruckt, und ich hab gemerkt, daß das so ein blinder Fleck ist von mir und daß ich sowieso auch die Gegend ringsrum interessant fand. Und habe dann beschlossen, daß ich da was mache. Und das ist auch eher neu. Daß das sozusagen richtig von Anfang an auf einem Entschluß basiert.
AM: Wobei bei der Walhalla, bei dem ganzen Komplex, da gibt es ja auch erst die Idee, daß du einerseits über das Walhalla-Monument was machen wolltest und dann die Walhallastraße in Berlin fotografiert hast, oder? Das war doch auch eine Konzeption, die vorher feststand.
UK: Ja, wobei das Projekt, was ich mir ja eigentlich ausgedacht hatte, das hab ich ja gar nie gemacht.
AM: Was war das?
UK: Na ja, das war schon sozusagen eine Art kulturhistorische Reise dahin, dort fotografieren. Da war ja die „Walhalla“, die „Rheinreise“ – die romantische Reise – und „Victor Hugo im Exil“, als Romantiker auf der Insel Jersey. Und Rheinreise und Hugo im Exil, also Jersey, diese beiden Sachen hab ich ja gemacht, das sind so kleine Schwarz-Weiß-Serien, also auch wesentlich reduzierter, als ich mir das damals gedacht hatte. Da hatte ich ja gedacht, ich gehe forschen in Paris, im Maison Victor Hugo, und suche da nach irgendwelchen Fotos, das habe ich ja alles nicht gemacht, und eben zur Walhalla, da bin ich bis heute noch nicht hingekommen. Und dann habe ich eben in Berlin die Walhallastraße und Fortunaallee fotografiert, die ja eigentlich damit nichts weiter zu tun haben.
AM: Und woher kam das Interesse an diesen romantischen Reisen?
UK: Eigentlich interessieren mich Landschaftsaufnahmen sehr und Gärten und Parks.
AM: Die Rheinreise gab es ja damals in unzähligen Stichen und später Fotos, die auch in den Köpfen von Leuten, die da nie gewesen waren, verankert waren. Auch wenn jetzt jemand in Weimar gewohnt hat, war noch nie am Rhein, war das trotzdem ein Begriff: „Die romantische Rheinreise“, die ganzen Burgen, man kannte das halt von Abbildungen. Also daß sozusagen eine Landschaft so stark eine Kulturlandschaft geworden ist, daß sie in Bildern existiert.
UK: Ich war ja vorher auch noch nie da. Und es gibt eben von Hugo auch diese ganz tollen Zeichnungen von Schlössern und Burgen in der Nacht, also total gothic; und dann gibt es natürlich diese Bilder von Turner, der ja auch die Walhalla gemalt hat, ich glaube, zur Eröffnung[xi], und irgendwie hat sich das alles so zusammengefügt.
AM: Da wären ja fast die Alpen noch naheliegend. Turner hat ja auch diese Aquarelle in den Alpen gemacht. Und das war ja sozusagen die innere Ergänzung: der romantische Rhein mit den lieblichen Hügeln, und dagegen die erhabenen Alpen mit den schroffen Gipfeln.
UK: Na, ich würde auch gerne mal in den Harz fahren. Liegt ja noch näher. Beide lachen.
AM: Soll wir uns mal aufmachen?
UK: Thank you for returning the dishes.
Bringt Kaffeetassen zum Tresen.
AM: Toll, die an der Kasse spricht italienisch.
Wir blättern in Die jüdische Welt, noch unentschlossen zum Kauf, und finden ein Foto von Alfred Döblin, photographiert von Lotte Jacobi, um 1930 (S.189)
UK: Hab ich dir das erzählt? Als wir die ganzen Fotos eingepackt haben, habe ich ein Foto gefunden, so eine Blumenhändlerin am Potsdamer Platz, und ein Herr im Hut, der bei ihr Blumen kauft, und der hat den Kopf so ein bißchen gesenkt. Und ich habe das Foto gesehen und gedacht: Das ist Alfred Döblin! Bin damit zu einer Mitarbeiterin von Ullsteinbild gegangen, und die dachten auch alle: Ja, doch, sieht doch sehr aus wie Alfred Döblin. Und weil da ein Vermerk war, in welcher Zeitung das gedruckt war, haben sie dann im Textarchiv nachgeguckt, aber leider fehlte genau dieser Band, wo die Ausgabe drin war. Und dann ist dieses Foto, weil man es nicht nachweisen konnte, wieder einfach so zurück ins Archiv gewandert. Total traurig.
AM: Und jetzt weißt du es immer noch nicht. Und du bist sicher?
UK: Nee, ja, es sieht halt so aus. Und jetzt versinkt das wieder im Archiv. Die waren schon richtig interessiert, weil sie sagen, wenn so ein neues Foto auftaucht: gerne nehmen Verlage dann auch mal ein anderes Foto. Man kennt die Fotos ja alle, die es gibt.
Jankel Adler. Photographie von August Sander, 1928; S. 202
Und dieses Foto hier… das ist von August Sander. Das war nämlich auch in der Ausstellung. Kennt man überhaupt nicht mehr, nee, Jankel Adler.
Alfred Flechtheim, um 1928; S. 204
Ah, toll – Alfred Flechtheim. Der muß auch Geburtstag haben, da hatten sie auch Fotos rausgesucht[xii].Warst du bei August Sander in der Ausstellung?[xiii]
AM: Von August Sander gab es bei Grisebach auch zwei Fotos, aber halt posthume Abzüge von
seinem Sohn.
Lotte Jacobi. Selbstportrait, um 1930; S. 209
UK: Lotte Jacobi.[xiv]
AM: Das Foto hatten die auch!!
UK: Nein! Why didn’t you buy it?
AM: Verstehst du jetzt, warum ich da so aufgeregt wurde? Genau dieses! Und noch ein anderes Foto von ihr.
UK: Wenn man hier so guckt… mir war es vorher ja zum Beispiel gar nicht so bewußt, daß Alfred Döblin ein Jude war. Wußtest du das?
AM: Nein. – Ich glaube, das Buch kaufe ich auf jeden Fall gleich.
Melkunterricht für jüdische Auswanderinnen in Hohenneuendorf bei Berlin. Photographie von Abraham Pisarek, 1936 (S.280)
UK: Hier, Abraham Pisarek. Der hat auch die Ausbildung von den jüdischen Jugendlichen, die nach Palästina gehen sollten, fotografiert. Die haben auf dem jüdischen Friedhof dann Gartenbau und Obstanbau und so weiter gelernt.
AM: In der frühen zionistischen Bewegung.
UK: Auch aus Notwendigkeit, in den dreißiger Jahren.
Abschiedsfeier für eine Gruppe von Jugendlichen, die mit Hilfe der Jugend-Alijah 1938 nach Palästina auswandern konnte. Photographie von Abraham Pisarek, 1938 (S. 298)
AM: Aber es war ja auch eine ideologische Bewegung. Das Ganze ist ja erstmal sehr abstrakt entstanden, als eine Idee. Theodor Herzl. Und daraufhin gab es dann auch die Jugendorganisationen. Wie ein paralleler Nationalismus ohne Staat eben. Aber ‘38, klar, da war es die pure Notwendigkeit.
Jüdische Eltern verabschieden sich auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin von ihren Kindern, die mit Hilfe der Jugend-Alijah nach Palästina geschickt wurden. Etwa 4000 Kinder konnten auf diese Weise bis zum Herbst 1939 gerettet werden. Photographie von Abraham Pisarek, 1936
(S.301)
UK: Oh, es ist echt schlimm. Hab ich dir das mal erzählt? Es gibt da im Jüdischen Museum ja Dinge, die Leute in die Sammlung gegeben haben, und da hat ein Mann ein Handtuch gegeben, das ihm seine Mutter damals geschenkt hatte, als er als Kind nach England geschickt wurde. Und sie hat ihm das Handtuch gegeben mit den Worten: Damit du eines Tages nicht ohne Handtuch dastehst. Und er hat dieses Handtuch niemals aufgefaltet. Dieses Handtuch liegt noch so gefaltet, wie die Mutter ihm das gefaltet hatte. Das hat mich total erschüttert.
AM bezahlt das Buch.
UK: 20 Euro, das geht eigentlich auch noch. Dann laß uns mal zu Max Liebermann gehen. Lesser Ury müßte auch hier sein.
AM: Lesser Ury ist im zweiten Stock.
Fortsetzung folgt.
In:
Neue Review, No. 6, Juni 2004, S. 6 – 10
[i] Die jüdische Welt von gestern. Text- und Bild-Zeugnisse aus Mitteleuropa 1860 –1938, hrsg. Von Rachel Salamander, Wien 1990 / München 1999.
[ii] Es waren über sechzehntausend Aufnahmen, von denen nur zweitausend erhalten geblieben sind. Sie entstanden zwischen 1935 und 1939. Vishniac mußte auch wegen des jüdischen Bilderverbot heimlich fotografieren. Er geriet elfmal in Gefangenschaft und war in einem französischen KZ, bevor ihm 1940 die Emigration in die USA gelang.
[iii] Roman Vishniac (1897-1990) hatte schon 1906 Experimente mit Mikrofotografie gemacht, studierte dann Biologie und Medizin und arbeitete als Mikrobiologe. In den zwanziger Jahren studierte er außerdem asiatische Kunst in Berlin. Ab 1941 kehrte er zur Mikrofotografie zurück, beschäftigte sich dann auch mit dem Sichtbarmachen chemischer Prozesse. 1961 wurde er Professor für Biologie an der Yeshiva-Universität in New York.
[iv] Roman Vishniac, Verschwundene Welt. München 1996, Lizenzausgabe bei Zweitauseneins
[v] Abraham Pisarek wurde 1901 in Przedborz (Russisch Polen) in der Familie eines jüdischen Kaufmanns geboren. Nachdem er 1919 nach Deutschland eingewandert war, versuchte er 1924, in Palästina Fuß zu fassen, kehrte jedoch 1928 zurück. In Berlin war er nach einer fotografischen Ausbildung für Bildverlage und das Berliner Theaterleben tätig. Seine Verbindungen zur KPD führten zur Zusammenarbeit mit John Heartfield und zur Mitgliedschaft in der Arbeiterfotografengruppe Berlin-Nord, die ihre Arbeit noch bis etwa 1938 illegal fortsetzte. 1933 erhielt Pisarek Berufsverbot, wurde aber bald als einziger Fotograf für die fünf bis 1941 fortbestehenden jüdischen Zeitungen und für den “Jüdischen Kulturbund Berlins” (eine Alibi-Einrichtung der Nazis) zugelassen. Die Auswanderung in die USA mißlang, der mehrfach drohenden Deportation konnten er und seine Familie sich nur durch glückliche Umstände entziehen. Nach dem Krieg stellte sich Pisarek der Sowjetischen Militäradministration als Dolmetscher zur Verfügung und nahm seine freiberufliche Bildreportertätigkeit wieder auf. Er wurde zu einem der wichtigsten Bildchronisten der “antifaschistisch-demokratischen Umwälzung” in der Sowjetischen Besatzungszone, der Gründung der DDR und ihrer ersten Aufbaujahre. Ab Ende der fünfziger Jahre wandte er sich fast ausschließlich der Theaterfotografie zu. Abraham Pisarek starb 1983 in Berlin (West). Wichtige Teile seines Archivs befinden sich im Besitz der Deutschen Fotothek.
[vi] 1934 wurde die Familie Ullstein gezwungen, das Unternehmen an die anonyme Cautio GmbH, Auffanggesellschaft der NSDAP, zu “verkaufen”. 1937 wurde der Name Ullstein – wegen seiner jüdischen Herkunft – getilgt. Der Verlag hieß nunmehr “Deutscher Verlag”. 1952 wurde der Verlag an die Familie Ullstein zurückgegeben, die ihn bis 1960 weiterführte. Dann erwarb Zeitungsverleger Axel C. Springer mit den Ullstein-Zeitungen auch den Buchverlag.
[vii] Otto Haeckel (1872-1945) und Georg Haeckel (1873-1942) wuchsen als Söhne eines Kolonialwarenhändlers in Sprottau/Schlesien auf. 1905 verließen die Brüder ihre Heimatstadt, um in Berlin als freie Fotografen, unter anderem für die “Berliner Illustrirte Zeitung” und “BZ am Mittag”, zu arbeiten. Nachdem Otto Haeckel eine mehrmonatige Studienreise von Mitgliedern des Reichstags nach “Deutsch-Ostafrika” mit der Kamera begleitet hatte, eröffneten die Brüder in der Anhalter Straße eine “Presse-Illustrationsfirma” Die Brüder zählten zu den bekanntesten Pressefotografen ihrer Zeit. Besonders interessant sind ihre Aufnahmen des Berliner Großstadtlebens um 1910-1920. Der Nachlass liegt beim Ullstein Bilderdienst.
[viii] Villa Grisebach Auktionen Gmbh, Berlin
[ix] Malick Sidibé (*um 1935) arbeitete als Studiofotograf in Mali und dokumentierte ab 1957 das Nachtleben der Jugend von Bamako. Siehe André Magnin, Malick Sidibé, Zürich 1998
[x] Ulrike Kuschel, Laub, Galerie Klosterfelde, 2003
[xi] “The Opening of the Walhalla (1842)”, Turner kannte die Berge und Flüsse des deutschen Rheinlands, da er mehrmals dorthin gereist war und auf jeder Reise viele Bleistiftskizzen gemacht hatte. Die Walhalla hatte er jedoch nicht gesehen und war auch nicht zur Eröffnung eingeladen worden. Trotzdem malte er 1843 seine Vorstellung davon und sandte das Gemälde zur Ausstellung nach München, wo es von den Kritikern verrissen wurde.
[xii] Alfred Flechtheim (1978-1937) war einer der wichtigsten Kunsthändler der Moderne und gründete die Zeitschrift „Der Querschnitt“, die ab 1924 vom Haus Ullstein verlegerisch betreut wurde.
[xiii] August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. Das große Porträtwerk und Arbeiten seiner Künstlerfreunde, Martin-Gropius-Bau, Berlin, 10.10.2003 – 11.01.2004. August Sanders (1876-1964) Werk umfaßt Landschafts-, Natur-, Architektur- und Stadtfotografie, berühmt aber ist er hauptsächlich für seine Porträtkunst, wie sie exemplarisch in der Fotoserie Menschen des 20. Jahrhunderts ausgeführt ist. Das Archiv August Sanders hat in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur in Köln seinen Platz gefunden. Literatur: Manfred Heiting (Hrsg.): August Sander, Köln 1999; August Sander, Menschen des 20. Jahrhunderts, Gesamtausgabe in 7 Bänden, München 2002
[xiv] Lotte Jacobi (1896-1990) photographierte von 1908 bis 1986; ab 1927 vor allem Portraits, experimentierte aber auch mit abstrakter Fotografie. 1935 emigrierte sie in die USA. Das Lotte-Jacobi-Archiv liegt bei den „Photographic Services and Special Collections“ der „University of New Hampshire’s Dimond Library“ Es umfaßt 47,000 Negative, einige hundert Vergrößerungen, drei Portfolios sowie Briefe, Dokumente und Kataloge.