Antje Majewski
Steine
1. Kunst
In diesem Text soll es um etwas gehen, das nur schwer in Worte zu fassen ist: wie künstlerisches Denken vor sich gehen kann. Ich kann versuchen, zu beschreiben, wie es bei mir ist – bei anderen kann es ganz anders sein. Es ist für uns Künstler*innen oft nicht einfach, darüber zu berichten, wie es dazu kommt, dass ein Kunstwerk entsteht, da sich vieles unter der Oberfläche abspielt. Das künstlerische Denken geht meist nicht in Sprache gefasst vor sich. Bestimmte Gedanken, Grundüberlegungen, Probleme, oder auch Bilder oder Szenen, die mir begegnet sind, können über lange Zeit fortwirken und mitlaufen, um in immer neuen Variationen an die Oberfläche zu kommen. Immer wieder nehme ich sie in meinem Denken zur Hand, drehe und wende sie nach allen Seiten und schaue sie genau an. Mein Anschauen in diesem „Raum der Besonnenheit“ (Aby Warburg) bringt sie zur Form – bis ich sie malen oder filmen und damit zur Verwirklichung in der Außenwelt bringen kann.
Ich möchte gern an einem Beispiel zeigen, wie das vor sich gehen kann: an Steinen.
Als Kind sammelte ich, wie viele Kinder, Steine. Wir wohnten damals bei Tübingen auf dem Dorf, und auf der nicht weit entfernten schwäbischen Alp gab es viele Fossilien, Ammoniten und kleine Fische, die bewiesen, dass hier früher ein Meer gewesen war. Ich hatte einen alten einäugigen Grundschullehrer, der uns im Wald die römische Wasserleitung und die Sexualität der Bäume erklärte und uns im Steinbruch die verschiedenen Schichten des Gesteins zeigte. Steine wurden durch ihn interessant: als Speicher von unfassbar viel Zeit, die vor den Menschen schon da war.
Als Mineralien bilden sie die Grundlage vieler Pigmente und sind Bestandteil frühester Farben für die Malerei, neben Kohle, anderen organischen Farben und den organischen Bindemitteln Fett, Harz, Knochen- und Hautleim, Kleister, Öl und Harz. Bis heute werden die Erden wie Terra di Siena oder Weiß-Pigmente wie die Rügener Kreide verwendet, während die kostbaren Edelsteinfarben wie Ultramarin und Lapislazuli durch chemische Farben ersetzt wurden. Die Geschichte der Malerei wurde von Anfang an – und das bedeutet, seit der Steinzeit – von der Suche nach Fundorten für Farben begleitet, die in vielen Kulturen magische Bedeutungen hatten und oft aus der Erde geholt werden mussten.
Das Erdinnere, der Ort der Steine, der von einer dünnen, kostbaren Haut fruchtbarer Erde bedeckt wird, macht den Menschen Angst. Wie der Grund des Ozeans oder die Luft ist es ein den Menschen natürlich nicht zugänglicher Raum, der mit den Mitteln der Technik gewaltsam geöffnet werden muss. Das Schürfen nach Edelsteinen, Gold, Silber, Erzen und später Kohle aus der Tiefe der Erde verbindet sich mit zahllosen Sagen und religiösen Vorstellungen – von Schatzgeistern zum Reich der Toten in der Unterwelt. Steine (in der Tiefe der Erde wie im Gebirge) sind der westlichen Kultur fremder als Tiere oder Pflanzen. Sie werden als das Gegenbild des Lebendigen gesehen, sie sind die tote Materie. Aber in vielen Kulturen sind Steine ebenso lebendig wie Menschen, Tiere oder Pflanzen. In pan- und polytheistischen Religionen wird kein Unterschied zwischen Lebendigem und Totem gemacht. Steine sind lebendig, und die Toten sterben nicht wirklich. Nach Hans Belting entstanden die ersten Bilder von Menschen aus dem Totenkult heraus, im Versuch, in ihrem Abbild dem Toten ein Fortleben zwischen den Menschen zu ermöglichen.[1] Ähnliches arbeitet Jan Assman in Tod und Jenseits im alten Ägypten heraus.[2] So lange der Name des Verstorbenen genannt wird, lebt er weiter. Das Bild des Toten ist zunächst das Substitut der Mumie.
Mich haben diese Gedanken sehr beschäftigt, weil sie für mich elementar mit der Frage nach dem Sinn der Bilder zusammenhängen. Gemälde sind, wie der konstruktivistische und konzeptuelle Strang der Avantgarde des 20. Jahrhunderts immer wieder betont hat, tote Objekte: nichts weiter als Pigment und Bindemittel auf einem Bildträger. Gleichzeitig sprechen wir ihnen die quasi magische Kraft zu, den Geist der Künstler*in (oder andere Inhalte) zu transportieren. Nur über diese magische Kraft ist es erklärbar, dass Kunstwerke ähnlich wie religiöse Reliquien einen eigentlich unbezifferbaren und deshalb extrem stark schwankenden Wert haben; dass sie in Tempel-ähnlichen Gebäuden verehrt werden, die für die Identitätsbildung der Gemeinschaft eine solche Wichtigkeit haben, dass diese Gemeinschaft bereit ist, große Summen zu investieren; und dass die Bewahrung dieser Reliquien oder Fetische eigene Berufsstände von Wissenden und Wahrern hervorgebracht hat. Es handelt sich offenbar um ein kulturübergreifendes, anthropologisches Bedürfnis, denn die Bewahrung von Objekten, die Kräfte, Geister oder Tote transportieren, an einem zentralen Ort der Gemeinschaft durch Priester*innen oder Schaman*innen finden wir in jeder Kultur, die ich kenne.
Kann Kunst tatsächlich etwas wie einen „Geist“ des Lebendigen transportieren, der die Toten/ Ahnen weiterleben lässt?
Eine zweite wichtige Funktion von Kunst ist das Erzählen von Geschichten. Geschichten bilden die Grundlage für die Vermittlung der Konstruktion eines Bildes der Welt, das vom Verhältnis der Menschen zum Kosmos wie zueinander handelt und immer eine Ethik mit einschließt.
Die dritte Möglichkeit ist die Herstellung von Kuriosa und Bravourstücken, die als erkennbar teure Objekte den Status der Käufer in einer Gesellschaft mit einer feudalen oder bürgerlichen Oberschicht bestätigen. Zu den Bravourstücken gehören auch Werke, für deren Verständnis ein umfangreiches Vorwissen nötig ist, so dass sich hier der Status der Käufer/ Betrachter über ihr Wissen ergibt.
Je weiter sich Kunst ihrer ersten beiden Aufgaben entledigt, desto verfügbarer werden heute ihre Objekte für eine widerstandslose Einordnung in die Warenwelt des Kapitalismus. Dabei spielt es keine Rolle, ob in die Objekte selbst Ironie oder vermeintliche Dissidenz eingebaut ist; der Kapitalismus assimiliert Kritik wie eine Amöbe, die sich einen Fremdkörper einverleibt und zum Eigenen macht.Um die Bilder, die wir selbst mit unserer Einbildungskraft und unsere Händen herstellen können – also die nicht durch technische Apparate vermittelten Bilder – vor ihrer Kritik zu retten, die besonders Gemälde ausschließlich als Objekte in der Zirkulation der kapitalistischen Warenwelt sieht, ist es für mich notwendig, ihre Funktion neu zu bestimmen.
Meine zentralen Fragen sind:
Wie kann ich Leben durch tote Objekte und über größere Zeiträume hinweg transportieren?
In welchem Bezug stehen sogenannte tote und sogenannte lebendige Objekte miteinander, wenn man das Weltganze betrachtet – im Sinne der „Tout-Monde“, der Welt der Relationen, von Édouard Glissant; oder auch im Sinne Bruno Latours?
Welche Geschichten erzähle ich, und wie können sie zur Konstruktion einer Zukunft des Kollektivs (Bruno Latour) beitragen?
2. Steine
Bergsteiger (1999)
Ich malte zum ersten Mal große Steine in dem Triptychon Bergsteiger, das Bergsteiger im Gebirge in Polen darstellte, im Góry Stołowe-Nationalpark, der im Dreiländereck zwischen Polen, Deutschland und Tschechien liegt. Die Bergsteiger hatten Bärte und waren für mich sehr anziehend. Genau wie die hinter ihnen liegenden runden Steine hatten sie etwas Weiches, Freundliches, gänzlich Unheroisches. Die Gemälde waren für mich eine Möglichkeit, beiläufig dem vergifteten Erbe der sozialistischen wie der nationalsozialistischen realistischen Männermalerei ein anderes Bild entgegenzusetzen und mir damit meine eigenen Möglichkeiten als Malerin zu erobern. Die Steine bilden dabei das Terrain, auf dem sich das Geschehen im Bild abspielt: ein geographisches Gebiet mit seiner politischen Geschichte, dass die Menschen wie eine Bühne betreten. Sie können dieses Gebiet durch ein neues Spiel, beispielsweise das harmlose Bergsteigen, neu bestimmen – so wie ich realistische Malerei für meine eigenen Zwecke neu nutzen wollte.
Skarbek (2005)
Mein Nachname ist polnisch, und meine deutschsprachige Familie kommt väterlicherseits aus der Gegend vor Poznan, die ebenso wie das Stołowe-Gebirge (das Teil der Mittel-Sudeten ist) zwischen den Nationalitäten wechselte. Vielleicht hat mich das unbewusst nach Polen gezogen: Ich fuhr wenigstens einmal im Jahr dahin, aber erst 2005 ergab sich die Möglichkeit, dort auf Einladung des Kurators Sebastian Cichoki mit polnischen Tänzern gemeinsam das Tanztheaterstück Skarbek zu erarbeiten. Das Stück wurde in der Bergbaustadt Bytom in Oberschlesien entwickelt. Die Stadt liegt über stillgelegten und verfüllten Minen, die sich immer noch bewegen und den Häusern Risse zufügen. Weil die Minen nicht mehr rentabel waren, war die Arbeitslosigkeit hoch. Ingo Niermann (Buch, Regie), Tomasz Wygoda (Choreographie), Katrin Vellrath (Musik) und ich (Regie, Kostüme, Szenenbild) wollten mit diesem Stück symbolisch die Minen noch einmal zum Leben erwecken. In alten schlesischen Sagen wohnt dort der Skarbek, ein Schatzgeist, der eifersüchtig die tote Welt der Gesteine überwacht. Wenn man ihn sich zum Freund macht, kann er einen beschenken; er kann aber auch plötzliches Unheil bringen. In unserem Stück gehen Menschen in die Minen und begegnen dort dem Skarbek und Gold, Silber und Kristall. Stein und Metalle werden lebendig und tanzen um die Menschen herum. Der Kopf wird ihnen verdreht und einer der Menschen zum Schluss weggetragen.
Ich war in den Monaten davor in Mexiko und hatte auch dort Bergwerke besucht und Sagen über Schatzgeister gelesen, El Jerba beispielsweise aus Real de Catorce, einer einst reichen Silberminenstadt in der mexikanischen Wüste, in der auch die Peyote-Kakteen wachsen. Ich aß von einem Kaktus und hatte auf dem Ritt zurück in die Stadt das Gefühl, die Berge würden transparent und ließen mich in ihr Inneres schauen, dass sich bewegte – unendlich langsam. Ich sah die Adern des Gesteins, seine Schichtungen, und die vergänglichen Pflanzen ganz oben auf der Haut.
Meine Kostüme für Skarbek, zu denen hölzerne Karnevalsmasken aus Mexiko gehörten, verbanden Elemente der mexikanischen und der polnischen Bergbaukultur. Die Ausbeutung der Erde wurde in Mexiko durch die Ausbeutung der Indigenas möglich, die wie Sklaven in den Minen arbeiten mussten, unter härtesten Arbeitsbedingungen. Auch die schlesischen Minen haben ihre politische Geschichte: Die alten Tunnel tragen zum Teil noch Schilder mit deutschen Inschriften, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts dort Schlesier (mit ihrer polnischen-deutschen Mischsprache) für das deutsche Reich schufteten.
Minenarbeit war immer gefährlich und der Tod unter Tage besonders bedrohlich – die Arbeit in den Minen ist die Arbeit im Verbotenen, im Reich des Todes. Und sie dient der Gier oder fördert sie. Die Arbeit der schlesischen Bergleute wurde im Sozialismus heroisiert, auch der Skarbek wurde überschrieben durch einen Geist, der die polnische Jugend im Klassenzimmer besuchte und auf Arbeiterehre und Arbeiterstolz einschwören sollte. Wenn wir nach ihm fragten, wollte niemand mit ihm zu tun haben.
In unserem Stück bekommt er seine alte, von Menschen nicht vorhersehbare Macht zurück. Das Innere der Erde wirkt auf die Menschen, es ist nicht mehr ein Bereich, der sich beherrschen lässt. Denn nicht nur die Menschen wirken auf die Erde ein; die ausgeräumten Minen bestimmten das Leben der Menschen über Jahrhunderte bis in ihren Tag-Nacht-Rhythmus hinein. Heute haben die Menschen nichts zu tun, und ihre Häuser bekommen über den leeren Minen Risse; während im globalen Maßstab das Verfeuern der Schätze der Erde schon seit langem das Weltklima verändert.
Gongshi (2005)
Unmittelbar nach dem Theaterstück verbrachte ich 2005 vier Monate in Beijing in China. Auf dem Flohmarkt in einem alten Tempel fand ich seltsam geformte Steine auf kleinen Sockeln aus Holz, die an Baumwurzeln erinnerten. Ich kaufte zwei und lernte, dass es Gongshi[3] waren, sogenannte Gelehrtensteine. Ich hatte mich schon in der Schulzeit für chinesische Malerei und Literatur interessiert und wunderte mich, dass von der Teilhabe am natürlichen Kosmos, wie ich ihn dort gefunden hatte, in Beijing nichts zu sehen war. Die Parks waren so angelegt, dass die planmäßig geschwungenen Ufer aus Beton bestanden, jede Pflanze den Gärtnern bekannt war; daneben standen die ebenso kontrollierten Apartment-Hochhäuser, in denen wir wohnten, oder die älteren Häuserblocks, bei denen jeder Besucher bemerkt wurde. China schien mir zunächst ein Land des Kontrollwahns.
Ich drehte das Video No School Today (2005), in dem ich einen Tänzer und einen kleinen Jungen von einer Akrobatik-Schule bat, Vater und Sohn zu spielen, die in einer modernen Wohnung im 12. Stock wohnen. Sie sollten zwei einfachen Bewegungsregeln gehorchen. Der Vater sollte sich auf dem Boden und an den Möbeln entlang bewegen, während der Sohn akrobatisch springen konnte. Ohne meine Anweisung verwandelten sie sich in diesem Spiel sofort in Tiere: ein langsames, echsenartiges, und ein behendes kleines Tier, das auf der Flucht war. Während der Vater über den Kühlschrank gleitet, kommt ein Gemälde an der Wand in den Blick der Kamera. Es stellt einen Gongshi auf einem blutroten Hintergrund dar. Ich hatte es eigens für den Film gemalt. Für mich war es ein Scharnier zu einer Welt, in der der Mensch in einem anderen Verhältnis zur Natur stand.
In den altschlesischen und mexikanischen Sagen stehen die Schatzgeister für das Unberechenbare, das unkontrollierbare und mächtige Gegenüber der Natur, die man sich gnädig stimmen muss. Im Taoismus dagegen ist das Qi[4] ebenfalls nicht vom Menschen kontrollierbar oder beherrschbar: Es durchfließt aber alles, auch die Menschen. Die Unregelmäßigkeiten der natürlichen Steine geben dieser Kraft eine Form, in der sie zirkulieren kann.
Statt die unberechenbaren Naturgeister durch Bitten oder Opfer gnädig zu stimmen, ist der Mensch im Taoismus selbst Teil der Natur. Je weniger er kontrollierend eingreift, desto besser kann er dem Tao folgen: einem Weg, der sich nur öffnet, wenn man sich ihm anvertraut. Selbstverständlich ist es auch nicht gut, anderen die Möglichkeit zu geben, kontrollierend und einengend das Qi zu vermindern: Das macht Taoisten zu natürlichen Dissidenten jeder Form von Staatsmacht gegenüber. Es gibt Geschichten über hässliche, alte, seltsame Männer, die zum Minister gemacht werden sollen (obwohl sich der Herrscher selbst nicht ganz erklären kann, warum es gerade dieser Mann sein muss, an dem so gar nichts Besonderes ist) und einfach ablehnen. Bevor man sich in den Staatsdienst begibt, wandert der Taoist lieber in die Berge, weit weg, und trinkt dort Tee (oder auch Wein).
Damit begann für mich meine Befragung der Gongshi, die mich immer weiter begleitet. Auch in Europa hat man in den Zeiten der Wunderkammer natürliche Objekte gesammelt, aber sie waren entweder exotisch (Straußeneier) oder so seltsam geformt, dass man die verschlüsselte Schrift Gottes in ihnen erkennen wollte (siehe Foucaults „Zeitalter der Analogien“); schließlich sammelte man, um das Reich der Natur ordnen und klassifizieren zu können.
Auch für die Gongshi gibt es Klassifikationen, die aber ganz anders lauten als in einem naturwissenschaftlichen Kabinett: Sie werden nach Herkunft (z.B. von heiligen taoistischen Bergen), Oberflächengestalt, Durchlässigkeit/ Löchern und Form beschrieben. Zuerst erinnerte mich das an die absurden Klassifikationen, angeblich aus „dem alten China“, am Anfang von Foucaults Die Ordnung der Dinge. [5] Durch die Lektüre taoistischer Schriften, besonders des Zhuangzi bekamen diese Qualitätsmerkmale für mich einen Sinn, der große Auswirkungen auch auf meine Kunst hat.[6]
Die Gongshi sind nicht deshalb wertvoll, weil sie aus einem seltenen oder besonders nützlichen Mineral bestehen. Jeder kann sie am Wegesrand finden. Eigentlich sind sie nichts wert und gleichzeitig alles: Jeder von ihnen enthält Qi und ist Teil der kosmischen Natur.[7] Sie zu kontemplieren bringt den Menschen in Kontakt mit dem Qi, das in der unregelmäßigen Oberfläche, den Löchern (der Leere) und der Form zirkuliert. Auch die Herkunft ist wichtig, da jeder Stein ein Miniaturgebirge ist. Die Gebirge sind die Knochen der Welt. Man bringt also den eigenen Körper in Relation zum Weltkörper.
Ich malte in diesem Jahr nicht viel, nur drei Bilder. Ein zweites kleines rundes Bild stellte ebenfalls einen Gongshi dar. Es waren gute Bilder, aber nicht ausreichend gut. Wie konnte ich es erreichen, nicht nur die Oberfläche der Steine darzustellen, sondern auch ihr Inneres? In welchem Sinn lebten diese Steine?
Die Gimel-Welt: Der Meteorit (2011-14)
2010 begann ich, eine große Ausstellung im Kunsthaus Graz (2011) vorzubereiten, die den Namen Die Gimel-Welt bekam.[8] Ich war eingeladen worden, mich anlässlich des Jubiläums des Universalmuseums Joanneum mit dessen Sammlungen zu beschäftigen. Stattdessen entschloss ich mich, mein eigenes kleines „Universalmuseum“ zu untersuchen, das in einer imaginären Vitrine untergebracht war. Es bestand aus sechs Dingen, die ich von Reisen nach China, Senegal, Paris und Warschau zurückgebracht hatte. Ein weiteres stammte von meiner Großmutter, es handelt sich um einen weißen Stein. Ich entschloss mich, zu den Orten zurückzufahren, von denen die Dinge stammten, und ihre Geschichten zu erforschen.
Eines der Gimel-Dinge war ein schwarzer, sehr schwerer, magnetischer Stein, der mir in Beijing als Meteorit verkauft worden war. Da ich nicht wusste, woher in China er stammte, entschloss ich mich, nach Guangzhou in Südchina zu fahren, nahe an Gebieten, in denen es viele Meteoritenfunde gab. Meine Assistentin Xu Shuxian machte mich mit Lu Ling bekannt, einer nicht-staatlichen Meteoritenforscherin. Lu Ling brachte mich zu dem Dorf Yang Wu Sha,[9] in dem ein sehr großer Meteorit, der Eiserne Ochse, zwischen Ahnentempel und Fischteich auf einem Sockel stand. Nachdem ich mit vielen Dorfbewohnern gesprochen und unterschiedliche Varianten der Geschichte des Meteoriten gehört hatte, scheint mir die Erzählung des alten ehemaligen Parteisekretärs die vollständigste:
Die Vorfahren der Dorfbewohner legten das Dorf vor 300 Jahren nach Feng-Shui-Prinzipien an. Da nach Feng Shui ein Ort Wasser braucht, hub man einen Teich aus und fand dabei den Meteoriten. Man legte ihn vor den Ahnentempel, aber an drei aufeinander folgenden Nächten lief der Stein immer wieder ins Wasser zurück. Er wurde als ein Biest gesehen, dass die Fische im Teich fraß. Man holte einen Feng-Shui–Meister, der ihn schließlich „kastrierte“: Er schnitt ein vorstehendes Stück ab, den „Penis“ des Eisernern Ochsen. Der kastrierte Ochse war nun friedfertig und blieb an seinem Platz, wo die Kinder ihn bis heute als Reitpferd missbrauchen.
Rund um das Dorf werden weiterhin sehr viele eisenhaltige, magnetische Steine gefunden. Während das gesamte Dorf den Eisernen Ochsen für einen Glücksbringer hält, meinte ein alter Mann, dass die Meteoriten Unglück bringen. Er verband dies mit der uralten Geschichte der Himmelsgöttin Nüwa,[10] die zu Anbeginn den Himmel mit Steinen flickte, als er einen Riss hatte. Die Steine fallen immer noch herunter und bringen Unheil über die Menschen.
Huang Xiaopeng, ein befreundeter chinesischer Künstler, sagte mir, er könne sich vorstellen, dass der Meteorit eigentlich ein Klumpen geschmolzenen Eisens sein könnte. Zur Zeit des Großen Sprung Vorwärts befahl Mao, sämtliches Eisen in primitiven kleinen Öfen einzuschmelzen, um England in der Stahlproduktion zu überholen. Die Dorfbewohner mussten buchstäblich ihr Ackergerät und ihre Türangeln einschmelzen, aber es entstand kein Stahl, sondern wertlose Klumpen Eisen. Vielleicht wurde dieser Klumpen damals weggeworfen und vergessen. Die vielen kleinen Brocken, die außerdem gefunden wurden, könnten mit den Eisenerzminen in Zusammenhang stehen, die das Wasser im Dorf vergifteten und Risse in den Häusern verursachen. Deshalb gab es damals den Plan, das gesamte Dorf umzusiedeln. Aber offensichtlich brachte der Meteorit doch auch Glück. Er verschaffte dem Dorf Aufmerksamkeit und sogar Touristen aus dem Ausland – mich und meine Studierenden, die ich in diesem Jahr ebenfalls dorthin brachte. Die Regierung hat das Dorf jedenfalls noch nicht umgesiedelt, und es gibt einen vagen Plan, dort ökologischen Tourismus entstehen zu lassen. Ich wünsche mir, dass der Meteorit von Yang Wu Sha auf jeden Fall weiterhin als Meteorit gilt, denn nur so kann er Unglück in Glück verwandeln. Auch mein „Meteorit“ hat sich wissenschaftlich gesehen als Magnetit herausgestellt – aber mich als Meteorit auf einen glücklichen Weg geführt.
Sowohl die Geschichte von Nüwa wie die Vorstellung, ein Stein sei ein Tiergott mit Penis und großem Appetit auf Fische und könne von selbst wandern, sind Vorstellungen, die auf ein sehr altes China verweisen – vorbuddhistisch, vorkonfuzianistisch und auch vortaoistisch. Es gibt eine volkstümliche Seite des Taoismus, die sich mit magischen Praktiken beschäftigt und sich aus solchen alten Quellen der Naturgottheiten nährt. Dort gibt es beispielsweise Erzählungen über Heilige, die in die Berge gehen und Steine in Schafe verwandeln können. In Yang Wu Sha verehrt man einen riesigen Banyan-Baum als „Großvater Baum“, der den Kindern Glück bringt. Man verehrt auch zwei Steine und überhaupt Himmel und Erde. Ich habe einen kleinen Altar für den Gott des Himmels (Tian)[11] gesehen, der nur aus einer Felsspalte bestand, in der ein paar Räucherstäbchen steckten. Der Gott der Erde ist ein Drache und wird im Haus verehrt. Aber auch das Gebirge selbst ist ein Drachen.
Die Gongshi selbst können einerseits als Form für das abstrakt gedachte Qi gedacht werden; sie symbolisieren aber auch die Gebirge als die „Knochen der Ahnen“ oder „das Rückgrat des Drachen“. In dieser Vorstellung verwandelt sich auch ein Landschaftsgarten mit seinen Viewing Stones in den Körper eines Ahnen. Die Erde ist sein Fleisch, die Steine seine Knochen und das Wasser sein Blut. Die chinesische Tuschemalerei, besonders die Landschaftsmalerei (Shan shui),[12] stellt immer wieder diesen kosmischen Körper aus Gebirgen und Wasser dar, in dem sich Menschen wie Fliegendreck verlieren, weil sie ein winziger Teil des Ganzen sind. Zweck dieser Malereien ist es, im Bild das Qi des Malers mit dem Qi des dargestellten Kosmos verschmelzen zu lassen. Diese Bilder wurden zunächst zur Selbstkultivierung gemalt.
Während man sich im Westen wundert, dass über Jahrhunderte immer wieder ähnliche Szenen gemalt wurden, wundert man sich doch nicht, wenn beispielsweise körperliche Übungen in Kung-Fu-Schulen genauestens nachgeahmt werden müssen, damit der Lernende sie schließlich so verinnerlicht hat, dass die Bewegungen ganz natürlich, wie von selbst („zhiran“) fließen. „Zhiran“ bedeutet sowohl „Natur“ wie auch „natürlich, wie von selbst“ oder auch „die Dinge selbst“. Der Begriff umschließt alle natürlichen Dinge im Kosmos einschließlich der Menschen.
I go get the Good Things (2011)
Die Kongruenz zwischen Körper und Landschaft findet sich in vielen Kulturen, ich kenne sie beispielsweise von den Aborigines und auch aus Papua Neu Guinea. Ich konnte mich damit genauer beschäftigen, als ich ebenfalls 2010 von Clémentine Deliss zu einem Arbeitsaufenthalt im Labor des Weltkulturen Museums, Frankfurt, eingeladen wurde. Sie öffnet die ethnographische Sammlung des Weltkulturen Museums für Künstler*innen, die mit den Gegenständen arbeiten konnten. Die von den Künstler*innen ausgewählten Dinge werden dann in ein klimatisiertes „Labor“ gebracht, wo man sie mit Handschuhen anfassen darf, sie umgruppieren, von allen Seiten betrachten – also das, was sonst den Wissenschaftlern vorbehalten ist. Ich wurde von der Kustodin der Ozeanien-Abteilung, Eva Raabe, auf eine Sammlung von Steinartefakten aus Papua-Neuguinea aufmerksam gemacht.
Sie lagen in einer Schublade: vergessene, graue Steine. Manche sahen aus wie Mörser, andere wie Stößel; einige wie Zahnräder, andere wie Kugeln. Ganz wenige trugen Reste von Bemalungen und ähnelten Figuren, etwa einer Sonne (im Fall eines bemalten „Zahnrads“) oder eines „Vogelkopfes“. Diese Dinge stammten aus einer Kultur, über die so gut wie nichts bekannt ist. Man weiß nicht einmal, ob die heutigen Menschen auf Papua Neu-Guinea ihre Nachfahren sind, auch die Datierung ist unklar. Da sie von Papua-Neuguineern in den letzten Jahrhunderten gefunden wurden, hat niemand ihre Umgebung dokumentiert. Die Menschen hielten sie für magische Dinge ihrer Vorfahren, Teile ihres Körpers, die sie in der Erde oder im Wald zurückgelassen hatten. Die Steine selbst waren lebendig: Sie entschieden, jemandem im Traum zu erscheinen, der sie dann an der bezeichneten Stelle fand; oder eines Morgens vor der Hütte zu liegen. Sie konnten auch wieder wegwandern, wenn es ihnen nicht mehr passte (wie in einem Museum auf Papua Neu Guinea geschehen). Die Menschen, denen sie zuliefen, gebrauchten sie für magische Zwecke. Einige konnte man in der Schweinehütte für Fruchtbarkeit brauchen, andere gegen Feinde.
Schließlich interessierte ich mich besonders für ein Ritual, das mithilfe eines der Steinartefakte und eines Strohmanns (Yupini) nur in Zeiten großer Not abgehalten wurde: das Kepele-Ritual der Enga.[13] Hier wurden unter Einreiben mit Schweinefett und Gesängen der symbolische Strohmann und der als weiblich gedachte Stein zusammengebracht, um Sex zu haben. Zu diesem Zweck hatte der Mann einen großen Strohpenis. Diese Hochzeit zwischen Mensch (der aber eigentlich ein Ding war, nämlich eine Strohpuppe) und Ding (das aber auch ein Mensch war, nämlich eine Vorfahrin) setzte wieder Fruchtbarkeit für Menschen, Tiere und Pflanzen frei. Da dieses und andere Rituale nach einer Hungersnot Anfang des 20. Jahrhunderts nichts bewirkt hatten, schlossen sich viele auf Papua Neu Guinea von sich aus den weißen Missionaren an, die offenbar über mehr Mana[14] verfügten. Laut Sammlungsbericht wurden viele der Gegenstände freiwillig auf den Missionsstationen abgegeben, weil die Magie der Vorfahren zu schwach war.[15]
Frankfurt verfügt über eine der größten Sammlungen dieser Steinartefakte, sie waren aber noch nie öffentlich gezeigt worden. Obwohl sie wegen ihrer Seltenheit einen hohen Versicherungswert haben, waren sie wohl für das Publikum zu unansehnlich. Die Versicherungswerte spiegeln das neue Bedeutungsfeld, in das die Missionare und dann die Forscher diese Dinge wandern ließen. Nun waren auf einmal die figürlichen Gegenstände die wichtigsten, während magische Natursteine, die offensichtlich von Menschen unbearbeitet waren, einfach weggeworfen wurden. Die Papua-Neuguineer des 19. Jahrhunderts dagegen schrieben gerade den Natursteinen oft sehr große magische Kraft zu.
Die Art, wie sie die Steine verwendet hatten, ließ mich an den Roman Picknick am Wegesrand von Boris und Arkadij Strugatzki denken.[16] Dort leben Menschen in einem Randgebiet an der „Zone“, in der Außerirdische gelandet und wieder gestartet sind und äußerst merkwürdige Dinge hinterlassen haben, die teilweise unbekannten Naturgesetzen gehorchen. Stalker wagen sich illegal in die gefährliche Zone und kehren mit diesen Dingen zurück, denn einige von ihnen haben sich im Gebrauch als nützlich erwiesen: Man kann beispielsweise mit ihnen ein Auto starten, oder sie als Armband zur Stärkung der Gesundheit tragen. Andererseits mehren sich in der Nähe der Zone auch Deformationen an Kindern. Im Roman spekulieren die Menschen genau wie die ethnologischen Forscher angesichts der Steinartefakte aus Papua Neu-Guinea, welche Bedeutung die Dinge der Außerirdischen wohl gehabt hatten, ohne etwas über die Außerirdischen (bzw. die ausgestorbene Kultur auf Papua Neu-Guinea) zu wissen. Wollten sie mit den Menschen kommunizieren, ihnen helfen, sie bestrafen? Für die ersten Finder der Dinge auf Papua Neu-Guinea waren sie die „Knochen der Ahnen“ – mit ihnen in einem Netzwerk der Entsprechungen des Lebendigen untereinander verbunden.
Die Strugatzkis, die diesen Roman noch in der Sowjetunion schrieben, wählten dagegen eine Variante, die auch Stanislaw Lem gefallen hätte, weil sie die Absurdität des anthropozentrischen Denkens (bzw. auf die Ethnographie bezogen, des eurozentrischen Denkens) zeigt. Die Außerirdischen hatten danach vielleicht eine Spazierfahrt im Kosmos gemacht, auf der Erde gepicknickt und dabei Abfälle hinterlassen. Sie hatten nicht nur keine Botschaft an die Menschen gesendet – nein, sie hatten gar nicht wahrgenommen, dass es auf diesem Planeten Menschen gab. Dann waren sie weitergereist.
Dennoch können die Menschen gar nicht anders, als alles auf sich zu beziehen und für sich nutzbar zu machen. Der wertvollste „Abfall“ ist eine legendäre goldene Kugel, von der man sich schlichtweg alles wünschen kann. Als der Stalker die Kugel endlich erreicht, wünscht er sich statt Gesundheit für sein deformiertes Kind: „Glück für alle, umsonst, niemand soll erniedrigt von hier fortgehen“.[17] Das entspräche in etwa dem Kepele-Ritual, in dem Glück (Fruchtbarkeit) nicht nur für einen, sondern für mehrere sonst verfeindete Stämme, für die Tiere und die Pflanzen erbeten wird.
Ich malte einige der Steine aus Papua Neu-Guinea. Meine Serie heißt I go get the Good Things nach einem Gesang während des Kepele Rituals („I go get the good things, you follow me.“) Es war eine sehr neue und großartige Erfahrung, diese ganz alten Dinge direkt malen zu dürfen, ohne Umweg über die Fotografie, in einem Atelier im Weltkulturen Museum, wo sie neben der Staffelei auf einem Labortisch lagen.
Malerei hat der Fotografie gegenüber den Vorteil, dass sie durch einen Menschen hindurchgeht und dabei mit dessen Energie aufgeladen wird – so könnte man das jedenfalls anhand der altchinesischen Vorstellungen über das Qi des Malers beschreiben. Ich stellte mir vor, die Gemälde selbst zu einem solchen Ding werden zu lassen, das vielleicht ein Auto starten oder ein Schwein trächtig werden lassen kann – oder dass die Gemälde wenigstens auf die Betrachter auf eine Weise ausstrahlen, die ihnen etwas übertragen könnte, auch wenn ich nicht so genau bestimmen konnte, was für eine Art von Energie es war. Aby Warburg spricht von „Energiekonserven“, die durch „Pathosformeln“ übertragen werden können, wobei dieselbe Energie ganz unterschiedliche inhaltliche Kontexte füllen kann. Diese Ideen entwickelte er nach seinem berühmten Besuch bei den Hopi-Indianern, wo er ein Schlangenritual beobachten konnte – das er in seiner Funktion und Symbolik in Relation zu europäischen Traditionen sah. Diese Ideen, die zum ersten Mal versuchten, eine kulturübergreifende Beschreibung für Kunst zu finden, waren für mich wie eine Bestätigung meiner eigenen Empfindungen. Ich hatte mich während meiner Recherchen zu ägyptischen Mumien unter anderem mit Grafton Elliot Smith[18] beschäftigt, der nicht nur die ersten anatomischen und medizinischen Forschungen an den Mumien veröffentlichte, sondern den „Diffusionismus“ mitbegründete – eine Theorie, nach der alle Kulturen durch Diffusion und Austausch entstanden, während die Standardtheorie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von Kulturen ausging, die sich isoliert voneinander, nur einem sozusagen eingebauten Gesetz des Hegel’schen Weltgeistes folgend, entwickelt haben sollten.[19] Grafton Elliot Smith wies nach, dass schon vor Tausenden von Jahren eine Verbindung zwischen Meso- und Südamerika, China und Ägypten bestanden haben musste. Er machte den Fehler, Ägypten zum Ausgangspunkt aller Kultur zu machen.[20] Aber seine Untersuchungen zur Verbreitung der Mythologie des Drachens oder zum Bild des Elefanten beispielsweise versuchen ähnlich wie Aby Warburg, Mythen von Griechenland bis China in ihrer vergleichbaren Funktion zu untersuchen und gleichzeitig ihrer Verbreitung und Transformation durch Kulturaustausch über Handelswege nachzugehen.
Für mich ist es eine immer noch offene Frage, wie es sein kann, dass sich so viele Vorstellungen in so unterschiedlichen Landschaften, Gesellschaften und Kulturen ähneln und ähnliche Formen finden. Während wir Texte anderer Schriften nicht lesen können, andere Sprachen im Zuhören nicht verstehen können, wenn wir sie nicht gelernt haben, vermitteln uns Bilder und Skulpturen von Kulturen, deren Lebensweise und religiöse Vorstellung extrem weit entfernt sein können, dennoch Empfindungen und Anschauungen, die wir mit uns in Relation bringen können. Ich meine, es muss mit der Übertragung einer Verkörperung zu tun haben, die sich mit unserem inneren Bild des eigenen Körpers wie der Welt verbindet. Möglicherweise hat dies mit einer wirklichen anthropologischen Konstante zu tun, nämlich mit unserem Lernvermögen durch Spiegelneuronen, die uns zur Nachahmung durch Empathie befähigen.
Venus und Phallus (2012)
Zwei Jahre später stieß ich bei der Vorbereitung für eine andere Ausstellung auf Steinobjekte aus Deutschland, von denen eines den „Stößeln“ aus Papua Neu Guinea frappierend ähnelte. Es handelte sich um Funde aus der Höhle Hohenfels bei Blaubeuren. Dort hatten altsteinzeitliche Menschen Figurinen hinterlassen: Tiere und menschliche Figuren, darunter die derzeit älteste Darstellung eines Menschen der Welt, die sogenannte Venus von Hohenfels (ca. 42 000 Jahre). Diese üppige Frau ähnelt der bekannten Venus von Willendorf mit ihren großen Brüsten, ihrer ausgeprägten Schamfalte und den kleinen Ärmchen – aber sie hat anstelle eines Kopfes eine Öse, konnte also wohl an einem Band getragen werden.[21] Ungefähr 10 000 Jahre jünger ist der Stößel, Schlägel oder auch Phallus aus derselben Höhle, der unter den Dingen aus Papua Neu Guinea nicht auffallen würde. Dort verleiteten die Funde der „Mörser“ die europäischen Forscher dazu, den „Stößeln“ eine ursprünglich praktische Funktion zuzusprechen. Bei den Funden aus Deutschland dagegen wird dasselbe Ding als „Phallus“ gesehen, vielleicht wegen seiner räumlichen (aber nicht zeitlichen) Nähe zur „Venus“. Nur einige Forscher wenden ein, es könnte auch ein Instrument zum Glätten von Leder gewesen sein. Die Papua Neu Guineer haben diese alten „Phalli“ übrigens bis ins 20. Jahrhundert hinein zum Schlagen von Rindenbaststoff verwendet, die sie zu Kleidung verarbeiten, das ist dokumentiert.
In zwei großen Gemälden malte ich die Venus und den Phallus. Meine Vorstellung war, dass sie sich nun, da sie sich in demselben „Denkraum“ aufhielten, vielleicht doch vereinigen könnten. Gleichzeitig war ich davon fasziniert, dass der menschliche Körper und die menschliche Sexualität offenbar so verallgemeinerbare Bilder hervorbringen, dass diese kleinen Skulpturen für uns zehntausende von Jahren lang etwas transportieren können, auch wenn wir nicht wissen können, welche Funktion sie ursprünglich einmal gehabt hatten.
Die Insel (I love Europe and Europe loves me), 2013
In einem Bild, das ich 2013 als Teil einer Werkgruppe malte und das ebenfalls einen Stein zeigt, wird zum ersten Mal die Warenzirkulation von Gemälden unterbrochen. Es ist ein Versuch, der vielleicht in der Zukunft zu mehr führen wird.
Mein Gemälde war der Versuch einer Interpretation eines Textes des polnischen Kurators und Schriftstellers Sebastian Cichocki, mit dem ich schon 2005 bei Skarbek zusammengearbeitet hatte.
In dem Text L.A.S.T. L.E.A.K. (I love Istanbul and Istanbul loves me) von Sebastian Cichocki wird von einer Insel berichtet, auf der wilde Hunde Gefangene anfallen, die dort in Decken gehüllt ausgesetzt werden. Auf dieser Insel entsteht ein Trampelpfad, und es ist unklar, wer ihn getreten haben kann – die Gefangenen können nicht gehen, die Hunde laufen nicht auf Pfaden.
Der Text von Sebastian Cichocki bezieht sich auf die Aktion I like America and America likes me von Joseph Beuys (1974), bei der er mehrere Tage mit einem Kojoten in einer New Yorker Galerie verbrachte. Beuys wollte damals amerikanischen Boden nicht betreten; er ließ sich, in Filz gewickelt, im Ambulanzwagen abholen und zur Galerie bringen. Die Begegnung mit dem Kojoten war für Beuys der Versuch der Kommunikation mit einem „mächtigen Wesen“, das eine Verbindung zur Geschichte Nordamerikas vor Ankunft der Europäer herstellt.
Der Trampelpfad auf der Insel erinnert an eine Arbeit von Richard Long, A line made by walking (1967). Der Künstler ging so lange im Gras auf und ab, bis eine Linie entstand. In beiden Fällen kann man die Arbeiten so lesen, dass es um das Verhältnis von Menschen zur Natur geht – das auch ein Machtverhältnis ist, selbst wenn nur etwas so Ephemeres wie ein gangbarer Pfad entsteht.Bei Beuys findet das seine Parallele in der Kolonialgeschichte, in der natürliche Ressourcen und unentgeltliche Arbeitskraft von Europa aus beherrschbar gemacht wurden. Die unbewohnbare Insel und der unzähmbare Kojote entziehen sich dieser Macht. Sie finden ihren alptraumhaften Zerrspiegel in der Insel der Gefangenen und den wilden Hunden, die die unbeweglich gemachten Gefangenen fressen.
Das Gemälde Die Insel (I love Europe and Europe loves me) zeigt eine düstere Insel im Meer, die von Sprüngen oder auch Pfaden überzogen wird. Die Vorlage für die Insel ist wiederum ein Gongshi. Der kleine Stein aus einer italienischen Sammlung schwillt hier zum Gebirge an. Kein Lebewesen ist sichtbar, nicht einmal Pflanzen. Aber scheint dieser gewaltige Körper aus Stein nicht zu atmen?Die Insel kann eine Insel der Toten sein. Sie ist auch die Festung Europa. In umgekehrter Reiserichtung versuchen Menschen der früheren Kolonien heute Europa auf winzigen Booten zu erreichen. Sie landen auf der überfüllten Insel von Lampedusa. Für viele wird diese Insel des Versprechens zur Todesinsel; mehr als 1500 Menschen sterben jedes Jahr im Mittelmeer bei dem Versuch, Europa zu erreichen – wo sie nicht willkommen sind.
Die Insel wurde mit anderen Bildern zusammen ausgestellt, die Miniaturobjekte aus der Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück darstellen. Sie wurden von den Gefangenen des KZs gemacht. Im Falle des Verkaufs eines der Gemälde der Serie Miniaturen wird die Hälfte des Erlöses der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zur Verfügung gestellt. Die andere Hälfte wird dem Verein STAY! Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative zugute kommen, an dieser Aktion beteiligt sich auch meine Galerie neugerriemschneider, Berlin. Bis jetzt konnten wir zwei Arbeiten verkaufen. Aus dem Erlös wird einerseits die Stelle eines Mitarbeiters bei STAY! finanziert, der Flüchtlinge bei Behördengängen begleitet; andererseits die Konservierung der Miniaturobjekte aus Plastik finanziert, die die Gefangenen in Ravensbrück in den 1940er Jahren aus ihren Zahnbürsten gemacht hatten.
Auf diese Weise nehmen meine Bilder nicht nur an der Schaffung von Kultur als einem Raum der gemeinschaftlichen Geschichten teil, sondern wirken auch aktiv in die politische Gemeinschaft hinein, in der ich lebe: die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Geschichte und ihrer Zukunft.
VENARI LAVARI LUDERE RIDERE OCCAST VIVERE (2010)
Zum Schluss möchte ich noch einmal in meine Kindheit zurückkehren: in die Zeit, in der man eine Muschel oder einen Stein findet und aus unbekannten Gründen ein Gespräch mit ihnen beginnt. Sie haben keinen Wert, gehören nicht in eine beginnende systematische Muschelsammlung, können nicht getauscht werden. Sie sind einfach nur besondere Dinge.
In vielen Wohnungen auf der ganzen Welt liegen Muscheln, Steine oder seltsam geformte Wurzeln – oft neben kleinen Kunstgegenständen oder Erinnerungsstücken, an die sich kaum noch jemand erinnert. Meine beiden Großelternhäuser hatten solche Fensterbänke voll „wertloser“ Objekte. In diesen Haushalten lagen sie neben Tellern, Büchern, Noten, Telefonen, Betten und vielem anderen Dingen, die von Menschen fabriziert, gegen Geld eingetauscht und nutzbar sind. Warum legt man sich die Exoskelette toter Tiere oder einen Feldstein in die Wohnung? Meine Großmutter hatte sogar einen gebleichten Ziegenunterkiefer dort liegen… und einen sehr runden weißen Stein, den ich nach ihrem Tod in meine Manteltasche steckte. Er wurde das siebte meiner Objekte. Auf dem Bild mit der Vitrine ist er nicht zu sehen, aber ich bin mir sicher, dass er sich nur versteckt hat.
Für mich ist er Teil einer Mauer geworden, mit der ich mir aus gemalten Steinen ein Haus baute. Zu diesem Haus führte mich ein anderes meiner Gimel-Objekte, die Osage-Orange oder auch Hedgeapple. Ich beschäftige mich nämlich nicht nur mit Steinen, sondern auch mit lebendigen Dingen.
In Osage County wohnen die Osage-Indianer, die von ihrem ursprünglichen Land vertrieben wurden und einen Vertrag über ihr neues Land bekamen. Als dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts dort Öl gefunden wurde, wurden sie so reich, dass Weiße versuchten, in Indianerfamilien einzuheiraten. So war es möglich, dass der „Halfblood“-Osage-Indianer John Joseph Mathews (1894–1979) in Oxford studieren konnte. Er wurde Schriftsteller, und nach einiger Zeit in Europa kehrte er in seine Heimat zurück und lebte dort in einem einsamen Steinhaus, das er selbst gebaut hatte, glücklich mit der Jagd und dem Leben in der Natur. Davon berichtet sein Buch Talking with the Moon (1945): In genauen Beobachtungen der Tiere und Pflanzen verfolgt es den Ablauf eines Jahres in den Eichenwäldern von Osage County und beschreibt die perfekte Balance des Ökosystems um ihn herum.[22]John Joseph Mathews war aber nicht nur ein glücklicher Naturliebhaber, sondern auch ein indianischer Aktivist. Er gehörte dem Stammesrat der Osage Nation an, vertrat ihre Rechte und eröffnete 1938 das erste von Native Americans selbst gegründete Museum für die Kultur der Osage.
In meinem „Kaminzimmer“ baute ich Mathews Haus neu, aus Steinen, die ich selbst malte. Es basiert auf einem historischen Foto, das John Joseph Mathews an seinem Kamin zeigt. Auf dem Kaminsims hatte er eine lateinische Inschrift angebracht: VENARI LAVARI LUDERE RIDERE OCCAST VIVERE.[23]
Mein Kaminzimmer ist kein wirkliches Haus, es ist nur ein dreidimensionales Gemälde; und es enthält auch kein echtes Feuer. Aber man kann sich dort in einen Stuhl setzen, der auch ein Gemälde ist, aber real genug, um darauf zu sitzen, und vielleicht damit beginnen, sich als „Objekt unter Objekten“ zu fühlen, Teil der „Gemeinschaft der Dinge“ zu sein. Den Stuhl habe ich im Hühnerstall meines Hauses auf dem Land gefunden. Es liegt zwischen vier Seen im Havelland, in Himmelpfort. Dort baue ich Gemüse an und schreibe gerade an den letzten Sätzen dieses Textes.
Der Versuch, über so etwas wie das Kollektiv zu sprechen und dabei von einer Gleichartigkeit und damit Gleichberechtigkeit alles Natürlichen auszugehen, wie sie der Taoismus formuliert hat, bringt ethische und politische Erzählungen und Entscheidungen mit sich. Mein Versuch, der Kunst und besonders den Gemälden wieder eine notwendige Funktion zu geben, steht damit im engsten Zusammenhang. Aber vieles ist mir noch nicht klar. Ich hoffe, dass ich noch viel lernen werde.