Nicolaus Schafhausen: Hat sich die Rolle des Künstlers innerhalb einer Gesellschaft, in der Kreativität und Individualität allgemeine Anforderungen geworden sind, verändert? Braucht es den Künstler als Profession überhaupt noch, wenn jeder prinzipiell den Anspruch erheben kann, ein solcher zu sein?

 

Antje Majewski: Ich habe nicht den Eindruck, dass viele Menschen für sich deklarieren, KünstlerIn zu sein. Sehr viele Menschen üben Berufe aus, die sich durch gleichförmige Abläufe auszeichnen, stark überwacht werden und wenig Spiel für Kreativität und Individualität lassen. Nicht-KünstlerInnen sagen mir andererseits oft, dass sie sich die ökonomische Unsicherheit und extreme Selbstbestimmtheit, mit der man als KünstlerIn lebt, nicht zutrauen würden.

Es braucht die Künstlerin / den Künstler, weil wir eine Arbeit ausführen, durch die dem Kollektiv im Sinne von Bruno Latour Formen hinzugefügt werden, die für die Gemeinschaft der Menschen und ihr Verhalten innerhalb des Kollektivs sehr wichtig sind. Das Kollektiv umfasst neben Menschen auch Tiere, Dinge, Handlungen … KünstlerInnen sind Teil der Kollektive, in denen sie leben und denen sie durch ihre Artikulationen helfen, sich zu verändern, so wie sie selbst auch ständig verändert werden.

Die künstlerische Arbeit unterscheidet sich von der Arbeit anderer kreativer Menschen dadurch, dass ihre Verfahrensweisen, ihre Bewertung und ihr Ziel nicht feststehen. Sie bildet damit eine anarchische Möglichkeitsstelle in den Systemen. Diese Stelle – oder dieser Raum – ermöglicht einen Denkraum / Distanzraum (Aby Warburg). Er kann Ängste und andere Emotionen („psychische Energiekonserven“) speichern und sie in Formen bringen („Pathosformeln“): in ein Bild, einen Gegenstand oder eine gemeinsame Handlung. In der gemeinsam erlebten „Besonnenheit“ wird es möglich, sich selbst als Teil des Kollektivs zu erleben und zu reflektieren, nicht als Einzelkatastrophe.

Für die Formen, die wir KünstlerInnen finden, tragen wir die Verantwortung. Auch diese Verantwortung und der Prozess der Formgebung selbst können in diesem Raum betrachtet werden. Dies alles sind Vorgänge, die viel Genauigkeit, Zeit, Geduld und Wissen erfordern. Kunst ist in diesem Sinn nicht eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung, da das Selbst nicht als Individuum begriffen werden kann. Sie ist vielmehr der Ort, an dem das Kollektiv in seiner Komplexität erfahrbar wird. Das ist für die Zukunft von sehr großer Bedeutung, da die Menschen begreifen müssen, dass sie mit jeder Veränderung, die sie zum Beispiel in Ökosystemen bewirken, Prozesse in Gang setzen, die nicht vollständig kontrollierbar sind und auf die Menschen rückwirken.

 

Wann ist Kunst langweilig? Oder noch wichtiger, wann ist Kunst spannend?

 

Kunst ist spannend, wenn sie aus der ganzen Wirklichkeit eines Menschen kommt. Diese Wirklichkeit bewohnt er / sie nicht allein. Die Form, die sie / er findet, öffnet ein Feld, das wir gemeinsam betreten können, in dem wir auch agieren können. Dort können wir gemeinsam Vergangenheit und Zukunft erzeugen.

 

Hat die Tatsache, dass immer mehr Kunst produziert wird, damit zu tun, dass sich immer mehr Menschen für bildende Kunst interessieren? Oder hat sich nur innerhalb der an Kunst interessierten Gruppe die Beschäftigung mit der Kunst intensiviert?

 

In Deutschland interessieren sich immer mehr Menschen für Kunst, weil es uns ökonomisch so gut geht. Durch das klassenübergreifende Entstehen von Freizeit verändert sich die Rolle der Kunstinstitutionen, die sich nicht mehr nur an das traditionelle Bürgertum wenden und somit auch das Vorwissen der Bildungsbürger nicht mehr voraussetzen können. KünstlerInnen können nun für ein Massenpublikum produzieren. Kunst als Freizeitaktivität kann auch Bildungsaufgaben übernehmen.

Global gesehen interessieren sich mehr Menschen für Kunst, weil andere Felder, in denen Sinn gebende und gemeinschaftsbildende Bedeutung erzeugt wird, unverbindlicher werden. In Ländern, die stark religiös geprägt sind, gibt es keinen großen Bedarf an Kunst (wenn sie nicht Teil der Religionsausübung ist). Das Interesse für „Kunst“ ist an das Entstehen einer Mittelschicht gebunden, die sich neue verbindende Bedeutungsfelder außerhalb der (feudalen, agrarischen, religiösen) Traditionen sucht: neue Möglichkeiten sozialen Austauschs, gegenseitiger Anerkennung und Gemeinschaftsbildung, während sich durch die Durchsetzung des Kapitalismus die traditionelle Gesellschaft auflöst. Diese Veränderungen bringen es auch mit sich, dass es global immer mehr Sammler gibt. Innerhalb der Gemeinschaftsbildung bietet es einen Distinktionsgewinn, Kunst zu sammeln. Dieses Interesse an Kunst kann auch rein ökonomisch begründet sein (Wertzuwachs, Geldwäsche).

 

Verstehst du dich als Teil einer Bewegung? Auch wenn es heute keine Kunst-Ismen mehr gibt – ist es interessant, sich einer bestimmten Strömung oder Gruppierung zuzuordnen?

 

Ich bin Teil des Kollaborativs ƒƒ, das ich mit anderen gegründet habe und dem im Moment 14 KünstlerInnen angehören. Wir sehen Kunst als eine Form des Austauschs und der Kommunikation. Wir sind FeministInnen und EgalistInnen und wollen als KünstlerInnen miteinander und gemeinsam agieren. Das Netzwerk hat bis jetzt in Ausstellungen, Performances, Diskussionen etc. mehr als 200 KünstlerInnen, TheoretikerInnen, MusikerInnen, SchriftstellerInnen, KuratorInnen und andere in Verbindung gebracht und Neues entstehen lassen. Wir haben kaum Budget, erheben keine Mitgliedsbeiträge und verdienen nichts daran. Alle Aktivitäten von ƒƒ basieren auf dem Wunsch, miteinander etwas zu erzeugen, voneinander zu lernen, gemeinsam Freude zu erleben. Auch unsere Auseinandersetzungen sind Teil eines lebendigen Prozesses. Kunstwerke in verschiedenster Form können punktuelle Ergebnisse dieser Prozesse sein, die dann auch in Ausstellungen gezeigt werden können. Diese ƒƒ Kunstwerke entstehen wie alle anderen Aktivitäten immer in Kollaboration, in wechselnden Konstellationen von kleineren Gruppen. ƒƒ liegt ein anarchisches, grundsätzlich nicht-hierarchisches Prinzip zugrunde, das als Ordnungsmoment nur unsere Freundschaften anerkennt. (www.fffffff.org)

 

Du bist fast ausschließlich öffentlichen Sammlungen vertreten, wie gehst Du mit der Musealisierung deiner Werke um? Wie wichtig ist es Dir Werke an ein Museum zu verkaufen? Welche Orte der Präsentation von Kunst sind deiner Ansicht nach in den letzten Jahren von tatsächlicher Bedeutung gewesen und bei welchem Typus von Institution wird ihre Bedeutung überbewertet beziehungsweise unterschätzt?

 

Ich wäre für die Neugründung von anderen Orten der Gemeinschaft. Museen sind Orte, an denen Dinge angehäuft werden. Sie entstanden aus dem Wunsch, durch Vollständigkeit der Beschreibungen und einer Systematik des Besitzes die Welt magisch beherrschbar zu machen. Während der Kapitalismus davon lebt, dass Dinge hergestellt, verkauft und konsumiert / abgenutzt werden, so dass neue gekauft werden können, behaupten Museen das Gegenteil. Hier werden seit der Frühzeit des Kapitalismus Dinge angekauft, um dem Verbrauch / Verfall entzogen zu werden. Sie bilden den Hort der Ahnen. Über das Leben und die Taten der Ahnen werden Geschichten erzählt. Das Wissen über die Ahnen eint die Gruppen der Eingeweihten. Die Gemeinschaft besucht den Ort, an dem die Dinge der Ahnen aufbewahrt werden, um einer magische Nullstelle des Kapitalismus zu begegnen, an dem er „gebannt“ wird; an dem die Beherrschung der Welt als Raum reiner Kontemplation erscheint, in dem es keine Ökonomie, keine Zeit und keine Macht gibt, während all dies tatsächlich das Museum bis in die Architektur der Toiletten hinein durchtränkt.

Ich würde mir wünschen, dass die Museen Dinge nicht von Handlungen abspalten. Wer einmal versucht hat, in einen musealen Raum Handlungen, lebendes Material oder Ereignisse einzuführen, weiß, wie schwer das ist – gegen die Rahmenbedingungen von Versicherung, Restauration, Archivierung, die alle im Museum Arbeitenden beschäftigen und die das Museum zu einem Mausoleum der toten Dinge machen.

Hier sind die Kunstvereine in einer viel besseren Lage, sie sind mobiler und haben keine eigenen Sammlungen, die sie beschweren. Sie sind ein Ort der Handlungen; hier findet Temporäres statt, das dann wieder verschwindet (und den KünstlerInnen das Problem der Archivierung überlässt).

Es scheint aber ein grundlegendes Bedürfnis nach dem Hort der Ahnen zu geben, den man immer wieder besuchen kann, der sich nicht ständig ändert und von dem aus ein dauerhafteres Bild der Welt generiert werden kann. Ich bin froh, dass meine Arbeiten ein Teil davon sind, weil sie auf diese Weise die Möglichkeit haben, ins Bildgedächtnis sehr vieler Menschen zu gelangen. Nicht als totes Ding im Museum selbst, sondern als lebendiger Teil der Menschen, die meine Arbeiten durch ihr Anschauen erzeugen und mit sich hinaustragen, können sie wirken. Dafür reicht es nicht, die Bilder und Installationen im Internet zu sehen – man muss sie mit dem eigenen Körper erfahren haben. Statt von Google abgelöst zu werden, sollten Museen körperfreundlicher sein. Sie sollten kleiner sein statt immer größer zu werden. Das ideale Museum würde einige wenige intensive Erfahrungen ermöglichen und die Menschen, die es besuchen, zu eigenem Denken und eigenen Handlungen ermutigen. Es wäre kein Museum, sondern ein lebendiges Museion, ein Heiligtum der Musen, in dem Menschen zusammenkommen und sich austauschen statt nur zu rezipieren.

Ich glaube, dass in den nächsten Jahrzehnten die Bedeutung der dinglichen Ware stark abnehmen wird. Ich hoffe sehr, dass wir ein anderes Verhältnis zu den Dingen, Tieren, Pflanzen und anderen Menschen finden können. Das wird alle Bereiche unserer gesellschaftlich-kulturellen Organisation betreffen und natürlich auch die Museen, die absterben werden, wenn sie keine wichtige Funktion in der gesamtgesellschaftlichen Sinngebung mehr erfüllen können.

 

Ist Kunst per se politisch? Aber wenn Kunst per se politisch ist, wäre dann nicht auch der Mensch überhaupt per se politisch, sobald er sich freiwillig artikuliert?

 

Politik: „Dinge, die die Stadt betreffen.“

 

Du bist seit 2011 Professorin an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Kann Kunst gelehrt werden? Wenn du deine Zeit als Studentin mit dem Jetzt vergleichst, haben sich dann die Vorstellungen und Erwartungen der jüngeren Generation verändert?

 

Ich versuche, mit meinen Studierenden gemeinsam über Kunst oder im weiteren Sinne Kultur nachzudenken. Ich selbst habe nicht Kunst studiert, sondern Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte. In meinem Studium habe ich vor allem eine Methodik des Denkens gelernt: genau zu sein, die eigenen Werkzeuge zu reflektieren und größere Zeiträume und geographische Räume mitzudenken. Ich komme aus der Mentalitätsgeschichte und Sozialgeschichte und interessiere mich heute für Kulturgeschichte, Bildwissenschaften und Philosophie, für Kunst, Literatur, Filme und vieles andere.

Ich hatte damals die Erwartung, eine gute Künstlerin zu werden und habe alle meine Energie darauf verwandt. Solche Studierende gibt es heute auch, und natürlich auch solche, die weniger intensiv studieren. Ich unterrichte nun seit zwölf Jahren und habe das Gefühl, dass sich alle Gruppen von Studierenden ähneln, übrigens auch die in anderen Ländern, in denen ich unterrichtet habe.

In Deutschland ist der Kunstunterricht zum Glück noch völlig frei, es ist die verbeamtete Anarchie. Ich habe für mich im Unterricht eine Methode entwickelt, die zum Teil aus Gesprächen besteht, zum Teil aus Inhalten, die ich in einem Seminar vermittele. Die Gruppengespräche versuche ich wie platonische Dialoge anzulegen, bei denen möglichst unhierarchisch gesprochen wird. In Einzelgesprächen versuche ich, die Studierenden durch Rückfragen in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Fragen klarer zu sehen. Ich habe außerdem immer auch Maltechnik unterrichtet, diskutiere Videoschnitt und andere praktische Fragen. Schließlich gebe ich in jedem Semester ein Thema vor, zu dem ich Exkursionen mache und Vorträge einlade, wir können aber auch im Chemielabor oder im Theater landen. Ich unterrichte eigentlich immer das, was ich selbst lernen möchte.

Auch das Lehren musste ich erst lernen. Wenn ich Kunst oben als Handlung beschrieben habe, durch die dem Kollektiv Formen hinzugefügt werden, dann ist es sehr wichtig, dass den KünstlerInnen eine Zeit der Ausbildung gegeben wird, in der sie möglichst viel, auch sehr unterschiedliche Bereiche des Kollektivs kennen lernen und ihre Handlungen und Formen ausprobieren – und in der sie zunächst nicht auf dem Markt agieren.

 

Viele Künstler finden, dass das geschriebene Wort über ihre Arbeit der eigentlichen Arbeit nicht gerecht wird. Kunsttheorie und Kunstkritik scheinen an ihren eigenen Absichten zu scheitern. Wie gehst Du damit um?

 

Jedes Medium hat seine eigenen Formen, die nicht restlos ineinander übersetzbar sind. Aber es gibt immer wieder Artikel über meine Arbeit, die mich erstaunen, weil sie genau und persönlich verstanden haben, worum es mir ging, und dafür Worte finden, die ich nicht finden könnte. Sprache ist ja nicht mein erstes Medium. Ich habe großen Respekt davor, wenn man sie gut verwenden kann. Ich liebe Literatur und Philosophie und bin in einem ständigen inneren Dialog mit Texten. Mir sind dabei Texte am nächsten, die durch eine Fiktionalierung oder Poetisierung über grundsätzliche Fragen sprechen können. Poesie und Kunst haben den Vorteil, dass Lücken und offene Stellen Teil unseres Sprechens sind; dass man nichts totklopfen muss. Hubert Fichte und Leonore Mau als Ethnografen; Édouard Glissant als Theoretiker des Postkolonialismus; Stanislaw Lem, Philipp K. Dick oder die Brüder Strugatzki als Spieltheoretiker, Gesellschaftsanalytiker und Philosophen; Yasushi Inoue als Historiker …

Ich fand es in den letzten Jahren sehr wichtig für mich, mit unterschiedlichen KuratorInnen zu arbeiten, die selbst schreiben und mich auf weitere Texte und Autoren hinweisen, wie Adam Budak, Clémentine Deliss, Sebastian Cichocki oder Anselm Franke.

„Die Gimel-Welt“ (Kunsthaus Graz, 2011) wurde in Zusammenarbeit mit Adam Budak zu einer Ausstellung, die zugleich ein Buch war. Sie konnte sich in die theatrale Ausstellungsarchitektur von Didier Faustino hinein entfalten und wieder zurückklappen in den Katalog als Buch, dessen Lektüre den Leser auf viele verschiedene Wanderungen mitnimmt.

Im Moment befinde ich mich mit Sebastian Cichocki in einem Text–Werk- Dialog. Er hat für meinen Katalog My very gestures (Salzburger Kunstverein, 2008) einen Text geschrieben, der eine konzeptuelle Ausstellung in Form einer Kurzgeschichte darstellt und erst am Schluss eines meiner Bilder integriert. Seitdem sind weitere Kurzgeschichten entstanden. Zwei habe ich nun zum Ausgangspunkt für zwei neue Werkgruppen genommen. Die beiden parallelen Ebenen von Texten und Bildern kommen in einer Broschüre zusammen, die die Besucher der Ausstellung To Paint is to Love Again (Deutsche Bank Kunsthalle, 2013) mitnehmen können. Dieses Wechselspiel, bei dem die Betrachter / Leser später nicht mehr sagen können, ob der Text oder das Werk zuerst da war, wollen wir fortsetzen.

 

In: Brigitte Oetker and Nicolaus Schafhausen (Ed.), Attention Economy. Jahresring 60: Jahrbuch für moderne Kunst, Sternberg Press 2013